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Manfred Nowak beschäftigt sich mit den Abgründen des Menschen. Der ehemalige UNO-Sonderberichterstatter für Folter sagt, dass sich Europa mitschuldig gemacht habe an den Folterverbrechen im amerikanischen Krieg gegen den Terror.
Manfred Nowak, warum foltern Menschen andere Menschen?
Das hat sich leider seit dem Mittelalter kaum verändert. Es geht darum, von Menschen, die einer Straftat verdächtigt werden, ein Geständnis zu erpressen. Im Mittelalter war es noch rechtmässig, Menschen zu foltern. Heute ist die Folter weltweit abgeschafft worden, sie ist auf der völkerrechtlichen Ebene absolut verboten. Trotzdem wird in der Mehrzahl der Staaten weiter gefoltert.
Wie ist das zu erklären?
Der Druck auf die Polizei von Seiten der Justiz, der Staatsanwälte, der Politik, der Medien und der Öffentlichkeit ist in den meisten Ländern sehr gross. Wenn ein Verbrechen geschieht, wird erwartet, dass es so schnell wie möglich aufgeklärt wird. Die Polizei ist in den meisten Ländern, vor allem im globalen Süden, nicht gut ausgebildet. Es fehlen auch technische Methoden der Wahrheitsfindung. In vielen Staaten gibt es nicht einmal Fingerabdrücke, geschweige denn DNA-Analysen. Das führt dazu, dass die Polizei schaut, wer verdächtig aussieht. Das sind in der Regel die Ärmsten der Armen, Obdachlose, Strassenkinder oder Vorbestrafte. Die werden oft zufällig festgenommen und so lange geschlagen, bis sie die Straftat zugeben.
Haben Sie in Ihrer Zeit als Sonderberichterstatter der UNO über Folter mit solchen Menschen gesprochen?
Ich habe in Gefängnissen viele Menschen interviewt, die nicht wussten, ob sie schon verurteilt sind oder nicht, weil Strafgefangene nicht von Untersuchungshäftlingen getrennt werden. Es sind Zustände, die man sich nicht vorstellen kann. In der Regel sind es nicht die berühmten Fälle von Dissidenten, die gefoltert werden. Bei 90 Prozent der Fälle, mit denen ich zu tun hatte, ging es um die Erpressung eines Geständnisses.
Der Österreicher Manfred Nowak war zwischen 2004 und 2010 Sonderberichterstatter der UNO für Folter. Der gelernte Jurist ist Professor für internationales Recht und wissenschaftlicher Direktor am Ludwig-Boltzmann-Institut für Menschenrechte in Wien. Bevor der heute 68-Jährige zum Sonderberichterstatter ernannt wurde, war er für die UNO im ehemaligen Jugoslawien als Experte für vermisste Personen und Richter des Internationalen Gerichtshofs in Bosnien-Herzegowina tätig. Am Dienstag hat er an der Summer University der Uni Luzern einen Vortrag zum absoluten Folterverbot gehalten.
Als Sonderberichterstatter für Folter habe er auf seinen Missionen vor allem Haftanstalten besucht, sagt Nowak. «Dort sind die Leute, die gefoltert wurden.» Er habe in dieser Zeit Tausende Menschen interviewt. «Das Schlimmste waren immer Kinder», so Nowak. Er berichtet von Kinderheimen in Kasachstan, in denen Schläge an der Tagesordnung waren. Oder von Ländern, in denen die Strafmündigkeit so tief sei, dass kleine Kinder in Gefängnisse gesteckt werden. «In Togo habe ich achtjährige Kinder in Gefängnissen gesehen», sagt Nowak. Eingesperrte Kinder, das sei «emotional» immer am schwierigsten gewesen.
Deshalb hat sich Nowak als Experte für eine globale Studie der UNO zu diesem Thema zur Verfügung gestellt. Die «Global Study on Children Deprived of Liberty» will in Erfahrung bringen, wie viele Kinder weltweit ihrer Freiheit entzogen sind. Im Februar wurden entsprechende Fragebögen an alle Staaten verschickt. «Wir haben keine Ahnung, wie viele Kinder betroffen sind», sagt Nowak. Er erhofft sich durch die Studie ein Umdenken im Umgang mit Kindern und dass Alternativen zur Haft entwickelt werden. Denn: «Im Prinzip sollten Kinder nicht eingesperrt werden», so Nowak. (dlw)
In einer weltweiten Studie von Amnesty International gaben 36 Prozent der Befragten an, dass Folter in gewissen Fällen gerechtfertigt sei, etwa wenn dadurch Leben gerettet werden können. Was entgegnen Sie dieser Haltung?
Es hat gute Gründe, dass in Reaktion auf den Nationalsozialismus und den Holocaust die Menschenrechte geschaffen worden sind. Gerade weil die Folter in den Konzentrationslagern und durch die Gestapo sowie die SS so verbreitet war. Danach hat man gesagt: Das ist so ein massiver Angriff auf den Kern der menschlichen Persönlichkeit, dass wir gegensteuern und das absolute Folterverbot einführen müssen. Die Folter entmenschlicht, sie ist darauf gerichtet, Menschen das Gefühl zu geben, eigentlich keine Menschen mehr zu sein. Nicht nur durch physische Folter, sondern auch durch Demütigung. Das haben die Folterungen im amerikanischen Krieg gegen den Terror deutlich gezeigt.
Sie sprechen es an, es sind nicht nur Diktaturen, die foltern, sondern auch demokratische Rechtsstaaten wie die USA.
Die USA unter der Regierung von George W. Bush haben versucht, nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 das Folterverbot zu relativieren und gegen die nationale Sicherheit aufzurechnen. Das hat in Guantánamo begonnen und hat sich dann immer weiter verbreitet. Wo immer Leute des Terrorismus verdächtigt waren, wurden sehr massive Foltermethoden angewendet. Es wurde sozusagen die Büchse der Pandora geöffnet. Das hat eine sehr negative Vorbildfunktion für andere Staaten gehabt.
Inwiefern?
Ich war in jener Zeit einmal auf Untersuchungsmission in Jordanien. Der Präsident des Parlaments hat mich offen gefragt, warum ich nach Jordanien käme, wenn doch mit den USA sogar das Mutterland der Demokratie foltere, warum sollte Jordanien das nicht auch tun dürfen? Schliesslich gebe es dort auch Terroristen. Das zeigt: Wird die Folter in Einzelfällen erlaubt, verbreitet sie sich wie ein Flächenbrand. Das haben die lateinamerikanischen Diktaturen in den 70er- und 80er-Jahren gezeigt. Dort wurde systematisch gefoltert, weil jeder Polizist das Gefühl hatte, sein Gefangener sei besonders wichtig mit besonders guten Informationen, an die es mit allen Mitteln zu gelangen gilt.
Was bedeutet es für den Kampf gegen Folter, wenn nicht einmal in einem Rechtsstaat wie den USA die politisch Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden?
Das ist etwas, das ich der Regierung von Barack Obama immer vorgeworfen habe. Obama hat zwar nach seinem Amtsantritt viel gemacht. Er hat per Executive Order die Folter beendet und auch die Geheimgefängnisse der CIA, in denen gefoltert worden ist, geschlossen. Aber er hat auch von Anfang gesagt, dass er nach vorne schauen will. Es ging ihm nicht darum, die Vergangenheit aufzuarbeiten und straf- und zivilrechtliche Verfahren gegen diejenigen, die unter der Bush-Regierung Menschenrechtsverletzungen begangen und gefoltert haben, einzuleiten.
Warum?
Ich glaube, er wollte die damals schon tiefen politischen Gräben zwischen den Demokraten und den Republikanern zuschütten. Meines Erachtens war das zwar politisch verständlich, rechtlich aber falsch und völkerrechtswidrig. Gemäss der UNO-Konvention gegen die Folter, welche die USA ratifiziert haben, sind sie verpflichtet, jeden Fall von Folter zu einem Strafdelikt zu machen. Aber unter der Regierung Obama ist nie jemand zur Rechenschaft gezogen worden. Die Einzigen, die verurteilt wurden, waren die Soldaten, die im irakischen Gefängnis Abu Ghraib Häftlinge gefoltert und gedemütigt haben. Die wurden aber nach dem Militärstrafrecht verurteilt.
Die neue CIA-Chefin Gina Haspel hat in der Bush-Ära ein Geheimgefängnis in Thailand geleitet. Fürchten Sie eine neue Folterwelle?
Ja. Falls wieder ein grösserer Terroranschlag in den USA verübt würde, kann man sich ausmalen, wie die Regierung von Donald Trump darauf reagieren wird.
«In Griechenland sind die Haftbedingungen mit afrikanischen Polizeistationen vergleichbar.»
Gibt es auch Folter, die von europäischen Demokratien ausgeht?
Naja, es gibt eine Mitwirkung und Mitverantwortung für das, was unter der Bush-Regierung geschehen ist. Dick Marty hat als Sonderermittler des Europarates nachgewiesen, dass es in Polen, Rumänien und Litauen Geheimgefängnisse der CIA gab. Es gab auch Zwischenlandungen in Europa von US-Flugzeugen, mit denen Terrorverdächtige transportiert wurden, bei denen man wusste, dass die Insassen schwer misshandelt werden. Die europäischen Geheimdienste, und da möchte ich keinen Staat herausnehmen, haben sehr eng mit den US-Geheimdiensten zusammengearbeitet.
Und ausserhalb dieser Kooperation?
20 Prozent der Fälle, in denen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Menschenrechtskonvention feststellt, haben mit Artikel 2 – Recht auf Leben – und Artikel 3 – Verbot der Folter – zu tun. Das sind schon massive Verletzungen der Menschenrechte. Der Grossteil der Fälle sind in Russland, in der Türkei, der Ukraine und anderen zentral- und osteuropäischen Staaten wie Moldawien angesiedelt. Aber es sind auch immer wieder westeuropäische Staaten wie Frankreich, England oder Österreich verurteilt worden.
Ist das Problem systematisch?
Nein, generell ist die Folter in Westeuropa die Ausnahme. Aber es gibt einen Bericht des früheren Menschenrechtskommissars des Europarates Thomas Hammarberg, der die französischen Gefängnisse als unmenschlich bezeichnet hat. Ich habe 18 Staaten in allen Weltregionen in offizieller Mission besucht. Der einzige Staat, in dem ich keinen Fall von Folter und die höchsten Standards an Haftbedingungen gesehen habe, war Dänemark. In Griechenland sind die Haftbedingungen mit afrikanischen Polizeistationen vergleichbar. Das sind zum Teil unbeschreibliche Zustände. In berüchtigten Polizeistationen in Athen ist auch ordentlich gefoltert worden.
Wie muss man sich einen typischen Fall von Folter in einem westeuropäischen Staat vorstellen? Ist das in der Regel einfach Polizeigewalt?
Ja. Folter findet in der Regel in den ersten Stunden nach der Verhaftung statt. Das ist fast überall so. Das heisst, bevor die Person Zugang zu einem Anwalt hat. Deshalb sollte jedes Verhör per Video oder Audio aufgezeichnet werden, und man sollte sofort Zugang zu einem Anwalt haben, der auch bei der Ersteinvernahme dabei ist. Die Verhafteten sollten auch sofort medizinisch untersucht werden. Es wird geschlagen und getreten, um Menschen, die nichts sagen wollen, etwas zu entlocken. Das ist eigentlich die grösste Gefahr.