Die irakische Armee erobert den Osten von Mossul. Mit dem bevorstehenden Angriff auf den Westen der Millionenmetropole wird sich die humanitäre Katastrophe weiter verschärfen.
Michael Wrase/Limassol
An Zeitpläne hat man sich im Nahen Osten noch nie gehalten. Anfang Januar, frohlockte der Sonderbeauftragte des scheidenden US-Präsidenten Barack Obama für die globale Koalition gegen den so genannten Islamischen Staat (IS), Brett McGurk, würden die Militäroperationen in Mossul abgeschlossen sein. Der US-General rechnete mit «zwei Monaten», um Obamas wenig berauschende Nahost-Bilanz mit einem Sieg gegen die Terrororganisation etwas aufzuhübschen. Vergangen sind inzwischen fast drei Monate, in denen sich die von lokalen Milizen und kurdischen Peschmerga-Milizen unterstützte «Goldene» Elitedivision der irakischen Armee durch Mossul kämpft.
Die Verluste sind so gewaltig, dass sie von der Regierung unter Verschluss gehalten werden. Das Blut der Märtyrer, heisst es in Bagdad optimistisch, sei aber «nicht vergebens geflossen». Zu Wochenbeginn wurde das Ostufer des Tigris erreicht, der durch Mossul fliesst, gestern dann die auch strategisch wichtige Universität, wo der IS Chemiewaffen herzustellen versuchte, erobert. Der östliche Teil der Metropole ist damit fast vollständig in den Händen von Regierungstruppen.
Die Kämpfer der Terrormiliz reagierten auf den Durchbruch der irakischen Armee mit der Sprengung von einer der fünf Tigris-Brücken. Zwei weitere wurden vermint, nachdem die Dschihadisten über die Brücken in den Westen der Stadt geflohen waren. Während des Rückzuges wurden Zivilisten erneut als menschliche Schutzschilde missbraucht.
Die gut eine Million Einwohner von Mossul müssen Höllenqualen erdulden, leben in ständiger Todesangst. Nicht nur Flucht, sondern auch die Benutzung eines Handys wird vom IS mit sofortiger Hinrichtung bestraft. Dennoch haben seit dem Beginn der Offensive 120 000 Menschen Mossul in Richtung der östlich gelegenen Kurdengebiete verlassen. Die dort errichteten Flüchtlingslager sind längst überfüllt. Im kältesten Winter seit mehr als einem Jahrzehnt können die Zelte nur ungenügend beheizt werden. Die Versorgung mit Trinkwasser und Grundnahrungsmitteln ist ungenügend. Trotz internationaler Hilfe sind die kurdischen Behörden mit dem Ansturm der Flüchtlinge völlig überfordert.
Mitarbeiter von Hilfsorganisationen gehen davon aus, dass sich die humanitäre Katastrophe noch verschärfen wird, wenn die irakische Armee den dichter besiedelten Westen von Mossul angreift. Eine Kapitulation der von Feinden umzingelten Terrormiliz wird ausgeschlossen. Wie in den letzten drei Monaten im Osten werden die auf 6000 Mitglieder geschätzten Kämpfer des IS auch im Westen der Grossstadt erbitterten Widerstand leisten. Schutz gegen die Bombenangriffe der Alliierten bietet ihnen ein ausgedehntes Tunnelsystem.
Zur Abwehr der Regierungsoffensive wurden bereits mehr als 800 Selbstmordattentäter eingesetzt. Auch mit kleinen Kampfdrohnen versuche der IS die Regierungsoffensive aufzuhalten, berichtet der amerikanische Oberst Brett Sylvia, der eine Einheit von US-Beratern in der Region Mossul kommandiert. Ihre Zahl soll in den nächsten Wochen auf 450 verdoppelt werden, um so den Vormarsch der irakischen Armee zu beschleunigen. Positiv auf die Offensive könnte sich auch die in den letzten Tagen erfolgte Annäherung zwischen der Türkei und der Regierung in Bagdad auswirken. Auslöser des Streites zwischen den Nachbarstaaten war die Stationierung von 400 türkischen Soldaten nordöstlich von Mossul ohne die Zustimmung von Bagdad. Diese sei mit dem Segen der irakischen Kurden erfolgt, behauptete die türkische Regierung, die nun offenbar «die Souveränität des Iraks» über den Stützpunkt akzeptieren will.
Die Befreiung der irakischen Grossstadt Mossul vom sogenannten Islamischen Staat (IS) sollte das Abschiedsgeschenk für Barack Obama werden. Dass drei Monate nach Beginn der Offensive nur der Ostteil der Millionenmetropole am Tigris zurückerobert werden konnte, wird der scheidende US-Präsident verschmerzen können. In seiner Amtszeit gab es – vor allem im Nahen Osten – schwerer wiegende Rückschläge. Sein Zaudern in Syrien, das Baschar el Assad zur Eroberung von Aleppo mit massiver russischer Schützenhilfe nutzte, werden viele Araber Obama niemals verzeihen.
Doch das ist bald Geschichte. Für die irakische Armee ist die Eroberung des Ostens von Mossul dagegen ein Erfolg. Auch den Westen der Stadt wird der IS nicht mehr lange halten. Worauf es nun ankommt, ist eine durchdachte Nachkriegsordnung. Denn in Mossul könnte sich schon bald entscheiden, ob der Irak endgültig auseinanderbricht oder langsam wieder zusammenwächst. Voraussetzung dafür ist eine Beteiligung der sunnitischen Bevölkerungsminderheit an der Macht im Zweistromland. Nur so kann den sunnitischen Terrormilizen endgültig der Boden unter den Füssen weggezogen werden, können neue humanitäre Katastrophen im Nordirak, die sich schon jetzt abzeichnen, vielleicht verhindert werden.
Obamas Amtsnachfolger Donald Trump sollte daran erinnert werden, dass unter republikanischer Führung der Bürgerkrieg im Irak begann. Die Ausbreitung der dschihadistischen Terrormilizen bis nach Mossul war möglich, weil in der von der US-Armee 2003 eroberten irakischen Hauptstadt Bagdad die öffentliche Ordnung völlig zusammenbrach.
Michael Wrase/Limassol
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