Der französische Ex-Präsident Jacques Chirac ist im Alter von 86 Jahren gestorben. Nie war der markige Gaullist populärer gewesen als zu seinem Lebensende.
“Er verstand die Franzosen, weil er selber ein sehr gefühlsbetonter Mensch war”: So lautete am Donnerstag eine spontane, sehr berührte Reaktion zum Ableben Chiracs. Der Präsidenten-Rentner genoss in Frankreich zum Schluss höchste Sympathien bis weit in die Linke hinein.
Es war nur ein Paradoxon seines bewegten Lebens, dass er als Alzheimerpatient gar nichts mehr davon erfuhr – nachdem er als Politiker nie viel Applaus erhalten hatte. Der Gründer der gaullistischen Partei RPR, mehrfache Premierminister und anfangs gescheiterte Präsidentschaftskandidat hatte mehr als ein Jahrzehnt lang im Schatten des Sozialisten François Mitterrand gestanden. Erst nach dessen Ende schlug seine Stunde. 1995 in den Elysée-Palast belangt, vermochte er aber auch dort kaum je zu überzeugen.
Und doch gilt Chirac heute als letzter „grand Président“ der Fünften Republik. Das zeugt auch von einer gewissen Überhöhung, die vor allem aufzeigt, wie sehr die Franzosen derzeit einen richtungsweisenden „Landesvater“ vermissen. Der verstorbene Präsident wurde – und wird nun zweifellos – umso beliebter, als seine Nachfolger Nicolas Sarkozy, François Hollande und Emmanuel Macron die Gunst der Franzosen weitgehend verspielt haben.
Chirac war der geborene Wahlkämpfer – doch mit seinen Siegen wusste er kaum etwas anzufangen. Unschlagbar im Volkskontakt, versagte sein politischer Instinkt, wenn er einmal im Amt und Würden war. Öfters – und nicht nur bei seinen zahlreichen Korruptions- und Finanzaffären – stellte sich Chirac selber ein Bein.
1997, zwei Jahre nach einer ersten Wahl in den Elysée-Palast, löste er ohne Not das Parlament auf und schrieb Neuwahlen aus – die er prompt an die Linke verlor. Danach musste der Gaullist fünf Jahre mit dem sozialistischen Premierminister Lionel Jospin „kohabitieren“.
2005 setzte Chirac erneut ohne Zwang eine Volksabstimmung an – diesmal über die EU-Verfassung. Auch dabei brockte er sich ein klares Nein ein, das die EU in eine bis heute dauernde institutionelle Krise gestürzt hat.
Selbst sein aussenpolitisches Bravourstück verpatzte Chirac im letzten Moment. Auf dem Höhepunkt der Irakkrise bot er 2003 er der Bush-Administration im Uno-Sicherheitsrat die Stirn und scharte Russen, Deutsche und Chinesen hinter sich. Auch die Washington Post zog den Hut und kommentierte auf Französisch: „Bien joué!“ Doch zum Schluss schnitzerte Chirac wieder, indem er ungeschickterweise ein französisches Veto ankündigte. Damit lieferte er US-Präsident George W. Bush einen billigen Vorwand, auf die entscheidende - für die USA im voraus verlorene - Abstimmung über eine neue Irakresolution zu verzichten.
Auch sonst agierte Chirac auf der Weltbühne ganz als Gaullist. 1995 ordnete er als einen seiner ersten Amtsentscheide im Südpazifik Atomversuche an; die internationale Entrüstung darüber ignorierte er. Mit Gerhard Schröder, mit der er gerne Bier trank, nahm er handfesten Streit in kauf, um den französischen Bauern die EU-Subventionen zu garantieren. Chirac liebte Afrika und die Afrikaner, aber seine Landwirte (und Wähler) verteidigte er mit Zähnen und Klauen gegen Agrarimporte aus der Dritten Welt.
Seine innenpolitische Bilanz war dürftig: Ausser der Berufsarmee verwirklichte er in seinen zwölf Elysée-Jahren keine echte Strukturreform. Umso mehr fiel der unverwüstliche Wahlkämpfer durch seine Affären auf. Die politischen waren dabei fast so redundant wie seine amourösen (die ihm in der Vor-MeToo-Epoche den Spitznamen „Monsieur zwanzig Minuten, Dusche inbegriffen“ einbrachten). Sobald Chirac 2007 die schützenden Pforten des Elysées verlassen hatte, erfolgte die Anklage.
2011 wurde Chirac als erster französischer Ex-Präsident verurteilt: Wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder erhielt er eine mehrjährige, auf Bewährung ausgesetzte Haftstrafe. Sie betrifft eine Zeit, als er noch Bürgermeister von Paris gewesen war und 15 Parteifreunde im Rathaus anstellte, um seiner gaullistischen „Sammlung für die Republik“ (RPR) Kosten zu sparen. Mehrere andere Tatbestände waren verjährt, so auch die Verwendung nicht existierender Wählerstimmen oder „geschmierter“ Bauvorhaben. Auch musste Chirac nicht persönlich vor den Richtern erscheinen: Seine Anwälte schoben die exotisch klingende Diagnose einer „Anosognosie“ vor – zu Deutsch Gedächtnisverlust.
Der gesundheitlich zunehmend angeschlagene Chirac sagte nach dem Urteil nur: „Ich mache keine Politik mehr.“ Früher schon hatte sich seine politische Indifferenz, ja Unverfrorenheit in einem ihm zugeschriebenen Bonmot geäussert: “Wahlversprechen gelten nur für die, die an sie glauben.”
Umso verwunderlicher ist es, dass Chirac nach dem Verlassen des Elysées höchste Popularitätswerte erhielt. Der linkische, aber stets generöse Liebhaber von Kalbskopf und Corona-Bier, der mit seiner profunden Kenntnis fernöstlicher Philosophie nie protzte, war völlig unprätentiös und uneitel. „Am Fernsehen? Da bin ich schlecht wie ein Schwein“, meinte er einmal wegwerfend.
Seine Aufrichtigkeit war entwaffnend. Chirac machte seinen Wählern gar nicht erst vor, ein höheres Ziel als seine (Wieder-)Wahl zu verfolgen. Oder auch nur ein politisches Programm. Als Student verteilte er die kommunistische Zeitung "L’Humanité", als Premierminister spielte er 1986 den neoliberalen Reagonomic, und als Staatspräsident betrieb er seine Wiederwahlkampagne mit dem linken Slogan „gegen den sozialen Bruch“.
2002 triumphierte Chirac sogar als moralischer Gralshüter der Republik, deren Regeln er mit Füssen getreten hatte. Diese Gunst der Stunde ergab sich, als der Rechtsextremist Jean-Marie Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen jenes Frühjahrs sensationell in die Endrunde vordrang. Dort wählen über 82 Prozent der Franzosen das „kleinere Übel“ Chirac, viele Linke „mit zugehaltener Nase“, wie sie sagten.
Die TV-Satiresendung Les Guignols de l’info präsentierte ihn stets als „Meisterlügner“: „Bonjour, mein Name ist Supermenteur“, deklamierte Chiracs Puppe im Superman-Dress. „Nach meiner Wahl werde ich die Steuern auf unter Null senken und die nächste Tour de France gewinnen.“ Die Nation lachte schallend – und wählte ihn ein zweites Mal ins Elysée.
Dass Chirac mit allen konnte, schloss nicht aus, dass er politisch gesprochen über Leichen ging. Vorzugsweise über die von Parteifreunden, die ihm im Weg standen. 1974 fiel er dem gaullistischen Erneuerer Jacques Chaban-Delmas mit einem Winkelzug in den Rücken, 1981 dem liberalen Staatschef Valéry Giscard d’Estaing (der ihn immerhin überlebt, auch wenn er nicht die gleiche Popularität geniesst); 1988 überrollte er Raymond Barre, 1995 Edouard Balladur.
Als Chirac 2007 abtrat, versagte er seinem einstigen Ziehsohn Nicolas Sarkozy ein klares Wort der Unterstützung. Mit dem „kleinen Nick“, wie er den Parvenu von Immigranteneltern nannte, verband ihn eine komplexe Vater-Sohn-Hassliebe voll gegenseitiger Abhängigkeit, Faszination und Verrat.
Später widmete sich Chirac noch seiner Friedensstiftung, die sich mit Wieder-Aufforstung, Gesundheit in Afrika sowie bedrohten Ursprachen in Drittweltländern befasst. Aber bald war er dazu nicht mehr in der Lage. Seine Tage verbrachte er zwischen Marrakesch und seiner grossen Pariser Wohnung, die ihm die libanesische Hariri-Familie im noblen siebten Stadtbezirk zur Verfügung gestellt hatte.
Wenn er von dort auf die Seine und sein Leben hinunterblickte, kam er sich vielleicht selbst so vor, wie ihn der Journalist Daniel Schneidermann einmal beschrieben hatte - als „ein sehr altes Fabeltier aus einer sehr alten Zeitrechnung, das wie durch Zufall an den undankbaren und kalten Gestaden des 21. Jahrhunderts gestrandet ist“. So war „Chichi“, wie ihn die Franzosen voller Zuneigung nannten, auch in der Politik gewesen: Stets im Element und doch irgendwie ständig im falschen Film.