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Beherzt, todesmutig, heldenhaft: Die Rettung eines Kleinkindes durch einen jungen Migranten sorgt in Paris für Applaus bis ins Élysée – und ein politisches Nachspiel.
Auch die verwegensten Helden sind bisweilen schüchtern. Mamoudou Gassama wagte sich am Montagmorgen gegenüber Emmanuel Macron nur auf eine Kante des goldbestickten Stuhls zu setzen. In Lochjeans und kurzärmligem Hemd gab er dem Staatspräsidenten im Élysée-Palast Auskunft, wie er zuvor eine ganze Hausfassade hochgeklettert war. Er habe «an nichts gedacht»; «je höher ich stieg, desto mehr Mut bekam ich». Gezittert habe er erst nachher, als er den vierjährigen Buben auf dem Balkon in Sicherheit gebracht habe, erzählte er Macron, der nur einen Kommentar hatte: «Bravo!»
Vorher, an jenem Samstagabend, war der Held noch ein ganz normaler Mensch gewesen. Bei der Porte de La Chapelle, einem kosmopolitischen Nordviertel von Paris, war er gerade mit einer Freundin unterwegs, um sich das Fussballfinale der Champions League anschauen zu gehen. Mit einem Mal hörte er Rufe und sah eine Ansammlung von Menschen, die alle voller Angst und Verzweiflung ein Wohngebäude hochblickten – wo ein Kleinkind an einer Balkonaussenwand klebte, unter sich gähnende Leere.
Alle schrien durcheinander oder riefen die Polizei, ein paar Leute stellten sich direkt unter den Jungen, um seinen Fall möglichst zu dämpfen, doch zwei Minuten lang wusste niemand weiter. Da rannte plötzlich ein junger Mann über die Strasse. Er sprang behände die Schutzmauer des Gebäudes hoch, von dort auf den Balkon des ersten Stockwerkes; dann angelte er sich mit kräftigen Klimmzügen zum zweiten Stock hoch, im Nu zum dritten und schliesslich zum vierten – wo er den Buben ruhig, aber resolut an einem Arm packte und über die Balkonbrüstung in Sicherheit hievte.
Die Szene, die gerade eine halbe Minute dauerte, wurde natürlich gefilmt und ging bald millionenfach um die Welt. Der Retter blieb aber vorerst unbekannt. Er hatte der Polizei noch Auskunft gegeben, denn sie war mittlerweile in die leere Wohnung eingedrungen und hatte den Vater des kleinen Buben in Gewahrsam genommen; er hat mit einem Verfahren wegen elterlicher Nachlässigkeit zu rechnen, nachdem er «einkaufen gegangen» war, wie er sagte.
Die Franzosen wollten aber nur wissen, wer der Lebensretter sei.
Mehr als einen Tag später erfuhren sie endlich seine Identität: Der «Spiderman», der sich ohne Sicherheitsnetz und Spezialeffekte eine Hauswand hochgeangelt hatte und den Medien dann aus dem Weg ging («ich hatte noch nie mit einem Journalisten gesprochen»), hiess Mamoudou Gassama und lebte in einem heruntergekommenen Ausländerheim.
Endlich aufgespürt von den Medien, berichtete der 22-jährige Afrikaner am Sonntagabend, er habe es «wegen des Kindes» getan: «Ich mag Kinder sehr und dachte nicht an die Stockwerke oder das Risiko. Es war der Junge, der mir den Mut gab.» Zu seiner Muskelkraft meinte er ganz banal: «Ich spiele Fussball, ich renne, gehe in den Fitnessklub.»
Noch am Sonntagabend hagelte es offizielle Reaktionen. Die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo freute sich via Twitter über den «heroischen» Akt und teilte mit, Gassama habe ihr gesagt, dass er aus Mali stamme und davon träume, sich hier ein Leben aufzubauen.» Ein Regierungssprecher liess verlauten, dieser «Akt einer immensen Bravour» entspreche den Werten der Republik und verdiene eine entsprechende Belohnung.
Am Montagmorgen lud Macron den Helden von Paris umgehend in den Élysée-Palast ein. Er liess sich von ihm den Tathergang erzählen und versprach eine schnelle Integration in die nationale Gemeinschaft – konkret die Einbürgerung und einen Posten bei der Feuerwehr.
Wird Spiderman Franzose?
In den Newssendungen herrschte der gleiche Tenor: Der junge Malier habe es mehr als verdient, die Staatsbürgerschaft zu erhalten. Sogar der fremdenfeindliche Front National (FN) räumte ein, es handle sich «unbestreitbar» um einen Akt der Bravour. Gefragt, ob er dafür sei, dass Gassama Identitätspapiere erhalte, meinte FN-Parteivize Nicolas Bay: «Wenn man ihn reguralisieren muss, um die Ausweisung der anderen illegal Zugereisten zu erhalten, dann bin ich dafür!»
In der Folge zeigte sich allerdings, dass Gassama gar nicht «papierlos» ist. Der Malier hatte zuvor drei Jahre in Italien gelebt und dort ein Schutzdokument erhalten, das ihm auch die Einreise nach Paris ermöglichte.