Joachim Gauck über Ostdeutschland: «Es herrscht eine kulturelle Verunsicherung»

30 Jahre nach dem Mauerfall äussert sich der ehemalige Bundespräsident und DDR-Bürgerrechtler zur Situation in Ostdeutschland. Er bezeichnet die Schweiz dabei als Vorbild.

Christoph Reichmuth aus Berlin
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Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck (2012 bis 2017) sieht Deutschland 30 Jahre nach dem Fall der Mauer im November 1989 auf einem guten Weg. Aufkommende Debatten einer «Epochen-Wende» im Zusammenhang mit rechtsterroristischen Anschlägen gegen einen Politiker der CDU im Juni und jüngst gegen eine Synagoge in Halle hält der 79-Jährige für übertrieben, wie er in einem Gespräch mit ausländischen Journalisten in Berlin erklärte. «Wir sind in einer anderen Situation als in der Weimarer Republik.»

Joachim Gauck über die Situation in Deutschland. (Bild: KEYSTONE)

Joachim Gauck über die Situation in Deutschland. (Bild: KEYSTONE)

Der ehemalige evangelische Pastor und DDR-Bürgerrechtler hält das «Klagegeschrei» nach dem Anschlag von Halle für verfehlt. «Wir sollten diesen Täter, diesen wenigen verbrecherischen Individuen, nicht die Bedeutung geben, als wären sie eine Armee, die kurz davor ist, die Macht zu übernehmen. Diese Menschen werden niemals die Macht übernehmen.»

Verweis auf die Schweiz

Dass auch Deutschland mit der AfD heute über eine starke rechtskonservative Partei verfügt, sei eine Anpassung an die Entwicklung, die es in anderen Teilen Europas schon gäbe. «Die Globalisierung, die Europäisierung, also das Verlassen der nationalen Narrative, aber auch die neuen Herausforderungen durch den technologischen Wandel schaffen ein Angst-Gemisch, das für diejenigen Parteien günstig ist, die so tun, als hätten sie ein Mittel dagegen.»

Dass die AfD besonders in Ländern der ehemaligen DDR Erfolge vorzuweisen habe, sei begründbar. «Die Menschen in Ostdeutschland sind Teil einer Transformationsgesellschaft wie in ganz Mittel- oder Osteuropa.» Menschen mit einer DDR-Biografie verfügten über wenig Demokratie-Erfahrung. Eine Gesellschaft, die eigenverantwortliches und individuelles Handeln nicht gelernt habe, «erwartet mehr von oben, man liebt mehr klare Führung».

Gauck warnte allerdings davor, alleine dem Osten Deutschlands eine Affinität zu rechtspopulistischen Parteien zu attestieren. «Auch in gut situierten Teilen von Baden-Württemberg und Bayern wird die AfD gewählt.» Um zu verstehen, weshalb, sei ein Blick unter anderem in die Schweiz ratsam.

«Wir schauen in die besten Länder, die wir haben. Meiner Meinung nach gibt es super Demokratien, und die liegen in Skandinavien und in der Schweiz. Viel mehr Demokratie geht nicht», so Gauck. In Ländern wie der Schweiz, «die für viele Teile der Welt Vorbilder sind», bestünden starke «nationalpopulistische Bewegungen. Und das hat keine sozialen Gründe».

Flucht in die Romantik

Die gegenwärtigen gesellschaftlichen Umbrüche seien vergleichbar mit den gesellschaftlichen Veränderungen zur Zeit der industriellen Revolution. «Es herrscht eine grosse kulturelle Verunsicherung. Die Menschen flüchten in die Romantik. Deshalb ist ein Teil dieser Bewegungen nach rechts für mich nicht durchgängig eine Feindschaft gegenüber der Demokratie, sondern eine Flucht aus der Moderne und eine Furcht vor der Freiheit.»

Gauck betonte, dass die SVP nicht mit der AfD zu vergleichen sei. Die SVP wollte nicht mit unserer AfD umgehen, da sie «auch nicht für Nazi-affin gehalten werden» wolle.

Gauck stellt nicht das Schengen-System in Frage, hält die komplette Durchlässigkeit der Grenzen aber für nicht ideal. «Formen der Begrenzung sind nicht automatisch undemokratisch.» Und: «Ein Verzicht auf ein Grenzregime halte ich für zu gefährlich. Das ist nur eine Zeit lang durchzuhalten.» Eine aktive Gestaltung eines Grenzregimes sei «nicht per se anti-demokratisch.»