JORDANIEN: «Niemand hier will nach Europa»

Die europäische Solidarität gegenüber Syrern stösst irakische Flüchtlinge vor den Kopf. Derweil hat die Aufnahme von Flüchtlingen in der EU fatale Konsequenzen für die Hilfe vor Ort.

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Der 51-jährige Moses – hier Zweiter von rechts, mit einem Teil seiner Familie im Flüchtlingsheim in Zarqa – hofft auf Asyl in Australien. (Bild Aleksandra Mladenovic)

Der 51-jährige Moses – hier Zweiter von rechts, mit einem Teil seiner Familie im Flüchtlingsheim in Zarqa – hofft auf Asyl in Australien. (Bild Aleksandra Mladenovic)

Aleksandra Mladenovic, Amman

Zehntausende Flüchtlinge strömen derzeit nach Europa. Syrer, die hierherkommen, haben in der Tendenz auch das nötige Geld, um die Schlepper zu bezahlen. Die grosse Mehrheit der Flüchtlinge muss sich hingegen damit begnügen, in einem der noch sicheren Länder in der Region Zuflucht zu finden. So hat alleine der Libanon inzwischen mehr als 1,4 Millionen syrische und 6000 irakische Flüchtlinge aufgenommen, in Jordanien sind rund 630 000 Syrer und 30 000 Iraker untergekommen.

Konvertieren, töten lassen, rennen

So auch elf christliche, irakische Familien aus Karakosh, einem Vorort von Mossul, die nun im Gebäude einer ehemaligen Hotelfachschule in Zarqa, im Norden Jordaniens wohnen. Das katholische Hilfswerk Caritas hat das ehemals leer stehende Gebäude übernommen und mit Möbeln für die Flüchtlinge ausgestattet. Sie alle flohen letzten Herbst aus Mossul, nachdem die Stadt von der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) angegriffen und später eingenommen wurde. «Die IS-Terroristen bombardierten ein Wohnhaus in Karakosh. Dabei starben eine Frau und zwei Kinder – 5 und 9 Jahre alt. Das war eine Warnung an unser Dorf. Wir wussten: Entweder konvertieren wir, lassen uns umbringen oder rennen», erinnert sich eine junge Englischlehrerin, die anonym bleiben möchte. Tausende flüchteten in die nahe gelegene Stadt Erbil im irakischen Kurdistan, wo sie in Kirchen Schutz suchten. «Weil die Kirchen bald überfüllt waren, schliefen die Menschen draussen auf der Strasse», berichtet die Englischlehrerin.

Nun bewohnt hier im Flüchtlingsheim in Zarqa jede Familie ein eigenes Zimmer. So auch jene des 51-jährigen Moses. In dem knapp 20 Quadratmeter grossen Zimmer reiht sich den Wänden entlang Bett an Bett. Auf einem doppelstöckigen Bett liegen weitere Matratzen übereinander. Abend für Abend werden diese auf den Boden gelegt, damit alle acht Familienmitglieder einen Schlafplatz haben. «Seit einem Jahr leben wir schon so», sagt Moses. Sein Gesicht erzählt von Trauer, Verzweiflung, Aufgabe. Die Familie hat längst über die UNO-Flüchtlingsorganisation UNHCR einen Asylantrag für Australien gestellt – und wartet. «Wir wollen einfach weg. Raus aus den arabischen Ländern und uns an einem sicheren Ort ein neues Leben aufbauen», sagt Moses, der sich in Karakosh mit einer eigenen Farm einen gewissen Wohlstand erarbeitet hatte. Dies, nachdem die Familie bereits 2006 während des Irak-Kriegs aus Bagdad fliehen musste und damals schon alles verlor.

Schlechtes Bild von Europa

Australien, Kanada, USA. Das sind die Wunschdestinationen der Flüchtlinge aus dem Irak. Hier besteht eine kleine Chance, über den legalen Weg Jordanien zu verlassen, weil diese Länder Kontingentsflüchtlinge aufnehmen. Europa fällt mit keinem Wort, bis die Vertriebenen explizit darauf angesprochen werden. «Niemand hier will nach Europa», sagt die junge Englischlehrerin stellvertretend. «Wir riskieren doch nicht unser Leben dafür, nach Europa zu gelangen, wo man uns gar nicht will, weil man nur syrische Flüchtlinge aufnimmt.» Eine junge Mutter stösst dazu und fragt die Journalistin aus der Schweiz in perfektem Englisch: «Ihr Land hasst Flüchtlinge, stimmts?»

Die irakischen Flüchtlinge hier sind gebildet, hatten einst zum Teil hoch angesehene Jobs. Sie informieren sich über das Weltgeschehen. Sie bekommen mit, wie Europa aktuell mit dem Flüchtlingsstrom umgeht. Allerdings gibt kaum ein syrischer Flüchtling zu, die gefährliche Reise nach Europa in Betracht zu ziehen. Dennoch ist der Flüchtlingsstrom nach Europa Realität. «Mit der zunächst emotionalen Reaktion hat die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel niemandem einen Gefallen getan», sagt Omar Abawi, Programm-Manager bei der Caritas Jordan. Die anfängliche Willkommenskultur Deutschlands, welche noch mehr Syrer nach Europa gelockt habe, berge verschiedene Schwierigkeiten. «Wie will Europa die vielen neu ankommenden Menschen integrieren? Es ist schon daran gescheitert, die bereits anwesenden Muslime zu integrieren. Immer noch gibt es etwa viele Dschihadisten, die von Europa aus nach Syrien in den Krieg ziehen», gibt Abawi zu bedenken.

Es fehlt immer mehr an Geld

Ein weiterer Problempunkt seien die Kosten: «Ein Flüchtling kostet in Europa drei- bis fünfmal so viel wie hier in der Region. Um Tausende in Europa zu versorgen, gefährdet man nun die Versorgung von Millionen Flüchtlingen im Mittleren Osten», kritisiert Abawi. Denn es fliesse immer weniger Geld hierher. Gerade Deutschland habe der Caritas Jordan kürzlich sämtliche Beiträge gestrichen. «Das sind 2,2 Millionen Euro, die fehlen», sagt der Programm-Manager. Mittlerweile hat die EU das Problem jedoch erkannt (siehe Kasten).

Die Schwierigkeit betrifft auch diverse UNO-Organisationen – und das schon seit einer Weile. So muss etwa das World Food Program (WFP) seit letztem Jahr immer wieder die Essensgutscheine für Flüchtlingsfamilien kürzen, weil die Finanzierung nicht mehr gesichert ist. Jüngst wieder im vergangenen Juli. «Wir fürchten, dass wir die Hilfe für syrische Flüchtlinge, die sich in Jordanien ausserhalb der Flüchtlingscamps befinden, komplett einstellen müssen», teilte das WFP mit. WPF-Sprecherin Bettina Lüscher erklärte: «Wissen Sie, wie schwierig es ist, einer Mutter zu erklären, dass wir nicht genug Nahrungsmittel für ihre Kinder haben, weil wir nicht genug Spenden erhalten haben?»

Stepeh O’Brien, Nothilfekoordinator der UNO, appellierte Anfang Woche an die internationale Gemeinschaft, dringend die finanzielle Unterstützung für syrische Flüchtlinge in Jordanien zu erhöhen. Bei seinem Jordanien-Besuch erklärte er: «Syriens Nachbarn erreichen den Punkt, an dem der Rest der Welt dringend mehr Verantwortung übernehmen muss.» Um die Flüchtlinge im Mittleren Osten versorgen zu können, brauchen die Hilfswerke dieses Jahr rund 7,4 Milliarden US-Dollar. Gedeckt seien davon laut UNO erst 38 Prozent.

Warten auf weitere Eskalation

Nach fünf Jahren Syrien-Krieg macht sich in Jordanien Frustration breit. «Die sozialen Spannungen nehmen zu, man merkt nun auch, dass die Kriminalität steigt», sagt Caritas-Programm-Manager Omar Abawi. Mit illegaler Arbeit drücken die Flüchtlinge die Löhne im Niedriglohnsektor. Die Wirtschaft floriere in dem von Konfliktherden umgebenen Land auch nicht ge­rade. «Es ist, als würden wir alle nur herumsitzen und Däumchen drehen. Es hat in den letzten fünf Jahren überhaupt keine Fortschritte gegeben», sagt Abawi. Sogar im Gegenteil: Die Syrer aus Homs seien mittlerweile alle in den Liba­non geflohen, die Syrer aus Aleppo grossteils in die Türkei. Allerdings erwarte Jordanien einen weiteren Flüchtlingsansturm aus Daraa nahe der Grenze zu Jordanien. «Dann werden noch einmal bis zu einer halben Million Menschen nach Jordanien gelangen», sagt Abawi. «Und wenn das passiert, passiert es zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt – einem ohne Geld.»

Gelder aufgestockt

«Wir haben alle – und ich schliesse mich mit ein – nicht gesehen, dass die internationalen Programme nicht ausreichend finanziert sind», räumte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel am Rande des EU-Gipfels zur Flüchtlingskrise von Mittwoch vor den Medien ein. Deutschland und die Schweiz haben die Hilfe denn auch aufgestockt. So beschloss der Bundesrat letzte Woche, 70 Millionen Franken mehr in die Region fliessen zu lasen. Die finanzielle Hilfe der Schweiz in Syrien, Libanon, Jordanien und Irak beläuft sich auf 198 Millionen Franken seit Ausbruch der Krise 2011.