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Die promovierte deutsche Historikerin Marie Sophie Hingst berichtet gerne von der leidvollen Vergangenheit ihrer jüdischen Familie. 22 Opfer, ermordet von den Nationalsozialisten, einige von ihnen im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Nur wenige ihrer Familie haben überlebt.
Die 31-Jährige erzählt in ihrem von 240'000 regelmässigen Lesern verfolgten Blog «Read on my dear, read on» regelmässig von der schrecklichen Geschichte ihrer jüdischen Vorfahren. Bei Vorträgen zieht sie Vergleiche zwischen Holocaust-Opfern und den heute im Mittelmeer zu Tode kommenden Flüchtlingen. Sie ist in der Blogger-Szene und bei jüdischen Verbänden hoch angesehen. Ihre Familiengeschichte macht sie so interessant, dass sie für ihren Blog schon Preise einheimste. 2017 wurde sie «Bloggerin des Jahres», 2018 erhielt die in Dublin lebende Deutsche einen Preis der «Financial Times».
Nur: Ihre Familiengeschichte ist eine Lüge. Ein Hirngespinst. Die 22 von den Nazis ermordeten Vorfahren, deren biografische Angaben sie auch der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem gemeldet hatte, gibt es nicht. Marie Sophie Hingst entstammt einer evangelischen Familie aus Sachsen-Anhalt. Das Magazin «Spiegel» hat recherchiert, nachdem Historiker in Deutschland auf Widersprüche in den Beiträgen der angeblichen jüdischen Nachfahrin gestossen waren. Der Horror von Holocaust, die Opferrolle – ein Narrativ, das Hingst besondere Aufmerksamkeit beschert hatte. Jetzt hat die Blogger-Szene ihren eigenen «Fall Relotius», die Community liess sich von einer Betrügerin täuschen.
Seit 2013 strickte sie an dieser Legende, und sie wurde ihr auch deshalb ohne Nachfragen geglaubt, weil es niemand wagt, eine leidvolle jüdische Vergangenheit infrage zu stellen. Marie Sophie Hingst reagierte erst unwirsch auf den Reporter des «Spiegels», als dieser sie mit den Vorwürfen konfrontierte. Inzwischen hat sie sich einen Anwalt zur Seite gestellt und lässt über diesen mitteilen, dass die «Texte in ihrem Blog ein erhebliches Mass an künstlerischer Freiheit für sich in Anspruch» nehmen würden. «Es handelt sich hier um Literatur, nicht um Journalismus oder Geschichtsschreibung.» Eine schamlose Rechtfertigung für eine Legendenbildung, mit der sie auch die Gedenkstätte Yad Vashem täuschte. Die Liste mit den 22 Opfern seien aus dem Nachlass ihrer Grossmutter, die sie selbst nie überprüft habe, sagt die Historikerin weiter.
«Der Wunsch, Opfer des Holocausts zu seinen Vorfahren zu zählen, dürfte eine deutsche Besonderheit sein», schreibt der «Spiegel». Tatsächlich gibt es weitere Beispiele, bei denen der Nimbus der Opferrolle gesucht wurde, um die Karriere in Gang zu bringen. Vor einem Jahr flog der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Pinneberg auf, der ebenfalls eine Holocaust-Vergangenheit seiner Familie vorgetäuscht hatte, in Wahrheit aber Sohn evangelischer Eltern ist. Der Fall erinnert in Teilen auch an einen Literatur-skandal aus den 90er-Jahren. Der angebliche Holocaust-Überlebende, der ein viel gelobtes Buch «Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948» im Suhrkamp-Verlag herausgegeben hatte, entpuppte sich als Schweizer Bürger ohne jegliche jüdische Wurzeln.
Der Preis «Bloggerin des Jahres» wurde Marie Sophie Hingst inzwischen wieder aberkannt. Bei der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem will man die von der Historikerin eingereichten Dokumente nun eingehend überprüfen. «Oft sind die Gedenkseiten der einzige Nachweis für die Existenz eines Holocaust-Opfers», sagt eine Sprecherin der Gedenkstätte. Yad Vashem ist darauf angewiesen, dass die Biografien mit ehrlichen Absichten eingereicht werden.