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Nach der Grenzöffnung sind laut türkischen Angaben 100'000 Flüchtlinge auf dem Weg in Richtung EU. Eindrücke aus dem Grenzgebiet.
Kurz vor der griechischen Grenze muss der junge Familienvater sich entscheiden, seine Augen sind vor Angst und Stress geweitet. «Wenn ihr jetzt weiterfahrt, kommt ihr da nicht mehr raus», beschwört ihn ein türkischer Taxifahrer, der seit Tagen mit Flüchtlingen aus Istanbul zur Grenze pendelt und die Lage dort kennt. «Die griechischen Soldaten nehmen euch die Schnürsenkel und Jacken weg und lassen euch im Schlamm stecken. Und zurück nach Istanbul könnt ihr dann nicht mehr. Kehrt lieber um!»
Der junge Afghane blickt zweifelnd auf seine etwa vierjährige Tochter, die im rosa Anorak am Strassenrand hampelt, während er ihr Schicksal entscheiden muss. «Bleiben können wir aber auch nicht», entgegnet er. «In der Türkei darf ich nicht arbeiten und muss jeden Augenblick die Polizei fürchten.» Verzweifelt blickt er zwischen dem Kind und dem Fahrer hin und her, aber die Entscheidung dürfte gefallen sein: Die Ersparnisse der Kleinfamilie stecken in ihren Reisetaschen und der Fahrt zur Grenze.
Tausende Flüchtlinge strömen seit Tagen zum Übergang Pazarkule an der Grenze zwischen der Türkei und Griechenland. Hier, am Rand der türkischen Stadt Edirne im äussersten Nordwesten des Landes, suchen sie erschöpft, verdreckt und verzweifelt ein Durchkommen, werden von den griechischen Grenztruppen aber immer wieder zurückgetrieben. «Seit Donnerstagnacht geht das so», sagt ein Polizist an der Grenze.
Seit März 2016 hielt die Türkei nach den Regeln ihres Flüchtlingsabkommens mit der EU die Grenze für Flüchtlinge geschlossen. Doch seit Donnerstag sind «die Tore offen», wie Präsident Recep Tayyip Erdogan sagt. In einer ganz offensichtlich koordinierten Aktion werden Syrer und andere aufgerufen, an die Grenze zu fahren. Die Organisatoren der Busfahrten für Flüchtlinge von Istanbul an die Grenze behaupten noch am Sonntag in arabischen Aufrufen im Mitteilungsdienst Telegramm, Griechenland habe die Grenze geöffnet – obwohl da schon längst klar ist, dass die griechischen Behörden niemanden ins Land lassen wollen.
Die Regierung in Ankara weist jede Verantwortung von sich: «Niemand von unseren syrischen Brüdern und Schwestern ist gebeten worden, zu gehen», schreibt Erdogans Kommunikationsdirektor Fahrettin Altun auf Twitter. «Wenn sie wollen, können sie bleiben. Wenn sie gehen wollen, können sie das auch.»
Die Türkei sehe es aber nicht mehr ein, dass sie mit dem Flüchtlingsproblem allein gelassen werde. Konkret verlangt Ankara laut Altun die Unterstützung von USA und EU bei der Schaffung einer «Sicherheitszone» für Flüchtlinge auf syrischem Territorium. Der Westen lehnt den Plan bisher ab. Die Flüchtlinge werden zu Schachfiguren in einer politischen Auseinandersetzung zwischen der Türkei und ihren westlichen Verbündeten.
Mit stark übertriebenen Flüchtlingszahlen versucht Erdogans Regierung, den Europäern Angst einzujagen. Mehr als 100'000 Flüchtlinge hätten bis Sonntag bei Edirne die Türkei verlassen, twittert Innenminister Süleyman Soylu. Ganz verlassen haben sie die Türkei freilich nicht: Sie harren auf türkischem Gebiet an der Grenze und im Niemandsland aus. Die UNO, die den Flüchtlingen an der Grenze mit Esspaketen hilft, spricht von 13'000 Menschen im türkischen Grenzgebiet.
Vor ein paar Monaten hatte Soylu selbst noch vor einer Öffnung der türkischen Grenzen zur EU gewarnt, da damit die Türkei zum Ziel von Millionen weiterer Flüchtlinge werden würde. Bisher liess er afghanische Flüchtlinge festnehmen und in ihre Heimat deportieren. Jetzt werden ganze Reisebusse voller Afghanen nach Pazarkule gebracht. Dieselben Taxifahrer, die unter den Augen von Soylus Polizisten jetzt Afghanen, Syrer und Iraner an die Grenze fahren, hätten vor ein paar Tagen noch eine Strafe wegen Menschenschmuggels riskiert.
Für Tausende verzweifelte Menschen bedeutet der türkische Versuch, die Europäer mit einer neuen Fluchtwelle zu erschrecken, dass bei ihnen für einen Moment lang Hoffnung auf ein besseres Leben aufkeimt.
Viele sind entlang der Grenze unterwegs. Einige versuchen sogar, trotz der Kälte durch den Grenzfluss Maritza nach Griechenland zu schwimmen, werden von den griechischen Grenztruppen aber nicht durchgelassen. Am Grenzübergang Pazarkule brechen zeitweise Strassenschlachten zwischen Flüchtlingen im Niemandsland und den griechischen Truppen aus. Die Griechen schiessen mit Tränengas, Flüchtlinge werfen Steine. Hin und wieder gelingt es kleineren Gruppen, über einen Acker oder durch die Maritza auf griechischen Boden zu gelangen. Die meisten von ihnen werden nach griechischen Angaben festgenommen. Griechenland ist wesentlich besser vorbereitet als bei der Massenflucht im Jahr 2015.
Entgeistert beobachtet der führende Migrationsforscher der Türkei die Ereignisse. Mit der Grenzöffnung schade sich die Türkei selbst, meint Murat Erdogan (der nicht mit dem Präsidenten verwandt ist). Das positive Image, das sich das Land mit seiner Versorgung der 3,6 Millionen Flüchtlingen aufgebaut habe, sei dahin. Doch der Regierung geht es nicht um Imagefragen. Sie fordert westliche Hilfe bei ihrem Militäreinsatz in der syrischen Provinz Idlib: Die Grenzöffnung wurde wenige Stunden nach dem Tod von 34 türkischen Soldaten bei einem Luftangriff in Idlib am Donnerstagabend verkündet.