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Von den über vier Millionen syrischen Kriegsflüchtlingen lebt der Grossteil in den Nachbarstaaten unter widrigsten Bedingungen. Endet der Krieg in ihrer Heimat nicht bald, suchen sie ihre Zukunft in Europa.
«Was glauben die, mit wem sie es zu tun haben», schimpft Marwan aus Hama und knallt wütend die «Safir» auf den Kaffeetisch. Die libanesische Tageszeitung hatte am Montag eine Anzeige der ungarischen Regierung veröffentlicht. Man sei zwar «gastfreundlich», hiess es in dem Text. Doch gegen Menschen, die versuchten, illegal in das Land zu kommen, werde man schärfste Massnahmen ergreifen. Kein einziger Syrer, empört sich Marwan weiter, werde sich von solchen Warnungen abschrecken lassen.
Nach viereinhalb Jahren Krieg sei die Schmerzgrenze erreicht. Weder in Syrien selbst noch in den arabischen Nachbarländern oder der Türkei sei ein «menschenwürdiges Dasein» mehr möglich, behauptet der syrische Mathematikstudent, der seit knapp drei Jahren im Libanon zu überleben versucht. Als angehender Akademiker gibt Marwan Nachhilfestunden. Mit dem Geld unterstützt er seine achtköpfige Familie, die in einem Rohbau am Rande von Beirut eingezogen ist. Die zugige Befehlsunterkunft kostet 300 Dollar Monatsmiete. Die libanesische Regierung ist mit der Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge überfordert. Jeder fünfte Einwohner ist mittlerweile Syrer. Bis Jahresbeginn erhielt jeder Heimatvertriebene vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) einen monatlichen Einkaufsgutschein über 30 Dollar. Im Sommer wurde die Hilfe auf die Hälfte gekürzt.
«Es war der berühmte letzte Strohhalm, der den Rücken des Kamels gebrochen hat», sagt Dina al-Kassaby vom Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP). Tausende von Syrern hätten daraufhin den Libanon verlassen. Nach Europa, aber auch zurück nach Syrien. Selbst in der zerbombten Heimat sei der Überlebenskampf inzwischen leichter als im Libanon, sagten die Flüchtlinge der Beiruter Hilfskoordinatorin.
Dass sich der Überlebenskampf der syrischen Flüchtlinge im Libanon, aber auch in Jordanien und der Türkei dramatisch verschärfte, hatte sich bereits im März abgezeichnet. Auf einer Geberkonferenz der Vereinten Nationen in Kuwait erhielt Generalsekretär Ban Ki Moon von den 70 teilnehmenden Ländern nur Finanzzusagen in Höhe von 2 Milliarden Euro. Gefordert hatte er 7,7 Milliarden Dollar. In den ersten drei Monaten des laufenden Jahres bekamen die UNO und ihre humanitären Organisationen sogar nur 9,8 Prozent der benötigten Finanzmittel. Zur gleichen Zeit wurde der Krieg in Syrien von den arabischen Golfstaaten weiter angeheizt. Vor der Unterzeichnung des Atomabkommens mit dem Iran wollten vor allem Saudi-Arabien und Katar den Sturz von Diktator Assad erzwingen. Die Aufnahme syrischer Flüchtlinge lehnen die Golfstaaten kategorisch ab. Auch ihre Zahlungsmoral lässt nach UN-Erkenntnissen zu wünschen übrig.
Mit zusätzlichen Finanzhilfen für Libanon, Jordanien und die Türkei wollen jetzt die Staats- und Regierungschefs der EU die Not der Flüchtigen lindern. Ihre Unterstützung kommt jedoch zwei Jahre zu spät. Selbst mit der Einrichtung einer Luftbrücke für internationale Hilfsleistungen in den Nahen Osten könnte das Vertrauen in die Barmherzigkeit des Abendlandes vermutlich nicht gewonnen werden. Stattdessen haben die Heimatvertriebenen inzwischen verstanden, dass sie sich ein menschenwürdiges Leben mit einer Flucht nach Europa erzwingen können. Die auch in Beirut und Amman gezeigten Bilder von reich beschenkten Syrern auf dem Münchner Hauptbahnhof haben sich in den Köpfen der Flüchtlinge festgesetzt, machen ihnen Mut, vermitteln Illusionen von einem besseren Leben im reichen Europa, in Deutschland, wo für ein karges Taschengeld nicht auf der Strasse gebettelt werden muss. Europa, so scheint es, wird den Strom der Flüchtlinge aus den Morgenländern mit Hilfsversprechungen, die häufig nicht erfüllt werden, kaum bremsen können.
Was die Heimatlosen, ob aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan, vielmehr erwarten, sind Schritte des Westens zur Lösung der Konflikte. Bereits die richtige politische Weichenstellung würde Hoffnung verbreiten, könnte Syrer und Iraker dazu bewegen, ihre Fluchtpläne zu überdenken. Die sich abzeichnende Koordinierung der amerikanischen und russischen Syrien-Politik könnte ein Schritt auf diesem Weg sein. Finanzhilfen, welche vor allem dazu dienen, die Syrer in den Flüchtlinslagern zu halten, schieben das Problem nur auf, anstatt es endlich anzugehen.