Unser Land braucht mehr denn je intakte Beziehungen zur EU. Für waghalsige politische Provokationen gibt es jetzt erst recht keinen Spielraum mehr. Eine Analyse.
Tag eins nach dem politischen Erdbeben in Europa. Vieles ist ungewiss. Auch für die Schweiz. Unsere wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zum Vereinigten Königreich bedürfen einer gänzlichen Neuordnung. Gegenüber der EU bleiben die bilateralen Verträge in Kraft. Doch wir stehen ab sofort einer anderen EU gegenüber, einer EU, die sich mit galoppierenden Veränderungen konfrontiert sieht.
Niemand weiss, welche mittel- und langfristigen Folgen der Brexit für Europa und unser Land haben wird. Wie geht die EU mit den scheidungswilligen Briten um? Was beabsichtigt die neue Regierung in London, so sie denn dereinst an der Macht ist? Wer setzt sich hüben wie drüben durch, die Falken oder die Tauben?
Ein kleines und mit EU und Grossbritannien eng verflochtenes Land wie die Schweiz tut gut daran, nichts zu überstürzen. Abwarten und Tee trinken. Die Ausgangslage für einen akzeptablen neuen Deal mit Brüssel in den Bereichen Zuwanderung und Institutionelles kann und wird sich noch ein paar Mal ändern.
Grossbritannien, das seinen Zugang zum EU-Binnenmarkt neu verhandeln muss, steht vor ähnlichen Fragen wie die Schweiz. Bei der Personenfreizügigkeit, aber auch im institutionellen Bereich. So lange diese Fragen zwischen Brüssel und London nicht angegangen werden, muss die Schweiz klugerweise zuwarten.
Leichter gesagt, denn getan. Die Initianten der Masseneinwanderungsinitiative haben uns eine dreijährige Frist eingebrockt, innert welcher die Personenfreizügigkeit neu ausgehandelt werden müsste. Deadline ist Februar 2017. Immerhin wissen wir seit gestern: Das ist unmöglich.
Der Brexit hat viele Nachteile. Doch er hat auch einen Vorteil: Das zweieinhalbjährige Ringen mit der EU um eine Lösung in der Zuwanderungsfrage ist beendet: Es gibt keine. Der Bundesrat steht mit allergrösster Wahrscheinlichkeit mit leeren Händen da. Die EU hat keine Zeit und Lust mehr, sich in den kommenden Wochen und Monaten um eine Einigung mit der Schweiz zu bemühen. Andere Sorgen.
Was heisst das nun konkret für unser Land? Bundesrat und Parlament sollten sich rasch und pragmatisch auf ein Bündel an innenpolitischen Massnahmen verständigen, die dazu beitragen, die Zuwanderung zu reduzieren. Schliesslich gibt es dafür einen Volksauftrag. Von der (noch) konsequenteren Förderung von inländischen Fachkräften über die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf bis hin zu einem sanften Inländervorrang, wie ihn etwa FDP-Ständerat Philipp Müller ins Spiel gebracht hat. Alles ist zu prüfen und rasch zu implementieren.
Massnahmen aber, die gegen das Freizügigkeitsabkommen mit der EU verstossen – Kontingente, Höchstzahlen, ein harter Inländervorrang – dürfen unter keinen Umständen ergriffen werden. Unser Land braucht in dieser Phase der Unsicherheit und Unübersichtlichkeit mehr denn je intakte und stabile Beziehungen zur EU, dem wichtigsten Handelspartner. Für waghalsige politische Provokationen, die nur den Spieltrieb und das Ego einzelner Politiker befriedigen, gibt es jetzt erst recht keinen Spielraum mehr.
Dies aber bedeutet, dass nebst einem Massnahmenpaket zur Reduktion der Zuwanderung konsequenterweise die Verfassung geändert werden muss. Das Geplauder von Politikern, die Masseneinwanderungsinitiative müsse umgesetzt und gleichzeitig die Bilateralen gerettet werden, muss als das entlarvt werden, was es ist: sinnfrei. Diese Initiative kann nur umsetzen, wer das Freizügigkeitsabkommen verletzt. Das dürfen wir aus ökonomischem Eigeninteresse nicht tun.
Selbstverständlich ist es möglich, einen Verfassungsartikel bis zur Unkenntlichkeit zu verwässern, ihn im Staatsarchiv der toten Buchstaben zu entsorgen. Ehrlich ist dieser Weg aber nicht. Der juristisch und politisch korrekte Ansatz ist eine Verfassungsänderung, die den aktuellen Normenkonflikt zwischen dem Freizügigkeitsabkommen und der Bundesverfassung aufhebt. Der Bundesrat soll hinstehen und diese Strategie verkünden. Grund zur Furcht vor einer erneuten Abstimmung gibt es nicht. Das Volk ist nicht blöd. In Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit sind die Bilateralen wichtiger denn je.
Und was ist mit dem Rahmenabkommen? Die Schweizer Seite spielt bei diesem Kernanliegen der EU seit acht Jahren auf Zeit. Es gibt keinen Grund, nicht weiterhin auf Zeit zu spielen. Die EU muss ähnliche Fragen jetzt auch mit London klären: Wie funktioniert die Rechtsübernahme bei gleichzeitiger Teilhabe am Binnenmarkt? Wer richtet in Streitfällen? Wer überwacht die Einhaltung der Verträge? Knifflig, knifflig. Eine institutionelle Anbindung an ein System, das gerade in den Grundfesten erschüttert wird, macht wenig Sinn. Abwarten und Tee trinken, Switzerland.
stefan.schmid@azmedien.ch