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International
In Russland protestieren Hunderttausende gegen die Verhaftung des Kremlkritikers Alexej Nawalny und gegen das System Putin. Doch der Präsident lässt sich nichts anmerken. Er zeichnet ein ganz anderes Bild der Realität.
Wladimir Putin sieht sein Land auf Kurs. Die Pandemie sei freilich eine riesige Herausforderung, sagte Russlands Präsident bei seinem virtuellen Wef-Auftritt am Mittwoch. Aber das gehe schliesslich allen Ländern so.
Zumindest diese Einschätzung Putins ist unstrittig. Was der Kremlchef allerdings sonst zur Weltlage zu sagen hatte, war an Zynismus kaum zu überbieten.
Von Freiheit als einem «zentralen Wert», sprach Putin, der Oppositionelle aus vorgeschobenen Gründen einfach wegsperren lässt.
Über eine «steigende Aggressivität in der Aussenpolitik» klagte der russische Staatschef, der seine Soldaten mit Georgien und der Ukraine in gleich zwei Nachbarländer einmarschieren liess.
Den «neuen politischen Dialog» in Syrien, lobte er. Das Blutvergiessen müsse ein Ende haben, sagte Putin, der massgeblich zu diesem Blutvergiessen beigetragen hat.
Putin, der direkt in den amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2016 eingegriffen hatte, forderte mehr Transparenz und Kooperation auf internationaler Ebene. Immerhin: Mit dem neuen amerikanischen Präsidenten Joe Biden tauschte er sich bereits über die Verlängerung eines wichtigen Abrüstungsvertrags aus – dem sogenannten «New Start»-Abkommen.
Den USA und deren «digitalen Riesen» unterstellte er jedoch sogleich, zur Unzufriedenheit der Leute beizutragen. Jene digitalen Plattformen wie Twitter also, die Putins Regime mit Hackern und Trollen angreifen und fluten lässt. Doch Putin drehte in seiner gewohnten Art den Spiess ganz einfach um: «Demokratische Institutionen», wie er sagte, würden beschlagnahmt und den Menschen so die freie Meinung verboten. In den USA habe man ja sehen können, zu welchem Desaster das führe, sagte Putin, und spielte damit wohl auf den Sturm des Kapitols in Washington an.
Dass unter seiner politischen Führung Bürger in Russland wegen online publizierter Meinungen in den Kerker gehen, wenn diese dem Sicherheitsapparat nicht passen, blieb am Mittwoch sowohl von Putin, als auch von WEF-Gründer Klaus Schwab unerwähnt.
Zumindest im öffentlichen Gespräch fragte Schwab auch nicht nach dem Verbleib des verhafteten Kremlkritikers Alexej Nawalny. Nawalny hatte einen Giftanschlag, hinter dem mutmasslich der russische Geheimdienst steckt, gerade so überlebt. Seit seiner freiwilligen Rückkehr aus Deutschland, wo er sich von den Folgen des Attentats erholte, sitzt er in einem Moskauer Gefängnis. Putin, der Nawalnys Namen grundsätzlich nicht in den Mund nimmt, schwieg natürlich ebenfalls.
Stattdessen warb Putin dafür, sich auf «echte Probleme» zu konzentrieren und weniger auf solche «die wir uns nur einbilden». Damit könnte er durchaus die Proteste gemeint haben, die nach Nawalnys Festnahme am vergangenen Wochenende in ganz Russland aufflammten. Es waren die grössten in Russland seit über einem Jahrzehnt.
Viele Russen, die am Samstag demonstrierten, taten dies zum ersten Mal. Weil sie nichts von dem «gemütlichen und guten Leben», das Putin seinen Landsleuten angeblich ermöglichen will, spüren. Und weil sie die Korruption des Putin-Regimes und dessen Günstlingen satt haben. Auf diese machte Nawalny mit einem kürzlich veröffentlichten Youtube-Video über «Putins Palast», den sich der Kremlherrscher im Süden des Landes errichten liess, erneut aufmerksam.
Rund 90 Millionen Aufrufe hat das Video inzwischen. Auch dazu freilich kein Wort von Putin während seiner Rede. Wohl aber erklärte er, dass in seinem Russland nicht nur ein paar wenige Glückliche in den Genuss eines guten Lebens kommen sollten, sondern alle.
Dass das System Putin stattdessen immer mehr Unzufriedenheit produziert, dürfte der Weltöffentlichkeit am kommenden Sonntag einmal mehr bewusst werden. Dann werden Nawalnys Anhänger – und mit ihnen viele Russinnen und Russen, die endlich das einfordern, was Putin ihnen seit Jahrzehnten verspricht –, nämlich erneut auf die Strasse gehen. Es könnte der Auftakt zu einer Protestwelle sein, wie sie der Kreml lange nicht gesehen hat.