Litauen
Die Nato probt an ihrer Ostflanke den Ernstfall: Der russische Angriff auf die Ukraine hat die Stimmung bei den Soldaten verändert

Die Nato verstärkt ihre Präsenz im Baltikum. Nahe der Grenze zu Weissrussland simuliert eine multinationale Truppe den Panzerangriff gegen den Nato-Staat Litauen. Die Gefahr war nie grösser als jetzt. Ein Truppenbesuch.

Christoph Reichmuth, Papradé
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Soldaten der Bundeswehr in Litauen besteigen den Schützenpanzer «GTK Boxer» (Gepanzertes Transport Kraftfahrzeug) in einem Waldabschnitt in der Nähe von Belarus.

Soldaten der Bundeswehr in Litauen besteigen den Schützenpanzer «GTK Boxer» (Gepanzertes Transport Kraftfahrzeug) in einem Waldabschnitt in der Nähe von Belarus.

Christoph Reichmuth/03.04.2022

Der amerikanische Bradley-Schützenpanzer kämpft sich durch den Untergrund in diesem so friedlich wirkenden Birkenwald. Die Sonne strahlt über dem Nato-Truppenübungsplatz in der Nähe der Ortschaft Papradé, 30 Kilometer nördlich der Grenze zu Weissrussland gelegen, 50 Kilometer nordöstlich der litauischen Hauptstadt Vilnius. Normalerweise sind hier 1200 Leute für jeweils sechs Monate stationiert. Nach dem russischen Angriff gegen die Ukraine wurde die Truppe um 400 Leute aufgestockt.

Lautes Rufen und das metallische Geräusch von Maschinengewehrsalven dringt aus dem Wald. Immer wieder Explosionsgeräusche. Der 600-PS-Dieselmotor des Bradleys heult auf, das Ungetüm versucht Panzersperren zu umgehen, wuchtet sich eine steile Stelle hinauf. Dann ein lauter Knall. Für die Angreifer ist die Übung vorbei. Der Panzer ist auf eine Übungs-Panzermine aufgefahren. Punktsieg für die Verteidiger. Im Ernstfall wäre die Besatzung tot oder schwer verletzt, der Panzer ausser Gefecht gesetzt.

Christoph Reichmuth

1300 Soldatinnen und Soldaten beteiligen sich an der Übung der Nato «Enhanced Forward Presence (EFP)», einer Nato-Operation zur Verteidigung der baltischen Staaten und Polens. In Litauen hat die deutsche Bundeswehr das Kommando über die multinationale Kampfgruppe mit insgesamt 1600 Soldatinnen und Soldaten aus Deutschland, Norwegen, Luxemburg, Holland, Tschechien, Belgien und einem Pionierzug der US-Armee.

Heute übt das Bündnis den Fall eines Angriffs von aussen, das Manöver «Stolperstein», mit schweren Geräten und Übungsmunition. Es wirkt ein bisschen wie «Krieg spielen». Doch die Gefahr für diese jungen Frauen und Männer an der Nato-Ostflanke ist seit dem 24. Februar dieses Jahres so real wie noch nie in den vergangenen Jahrzehnten. Wen die Angreifer simulieren, ist jedem hier klar, nur sprechen tut niemand von «den Russen».

Nato erhöht Präsenz auch in Ungarn und der Slowakei

Wie in Litauen verstärkt die Nato ihre Präsenz an ihrer gesamten Ostflanke. Auch in Ungarn, Rumänien, Bulgarien und der Slowakei hat das Bündnis zur Abschreckung und Verteidigung seine Einsatzbereitschaft erhöht. Die Amerikaner haben in diesen Tagen mitgeteilt, sie wollten permanente US-Stützpunkte in den osteuropäischen Nato-Staaten aufbauen.

Die Konzentration beim multinationalen Gefechtsverband in Litauen ist hoch. Die Einstellung der Truppe hat sich laut Daniel Andrä, Kommandant der Battle-Group, seit Beginn der imperialistischen Töne aus Moskau noch einmal verändert. «Wir sind noch motivierter, noch wachsamer», sagt Andrä. Im Tonfall der Überzeugung fügt er hinzu:

«Es gibt aber derzeit keine Indikatoren dafür, dass Russland plant, Nato-Territorium anzugreifen.»

Dennoch hat das Verteidigungsbündnis nicht nur personell aufgestockt, sondern liess die Truppe in Litauen mit zusätzlichen Panzerhaubitzen, Radargeräten und modernsten Luftabwehr-Komponenten aufrüsten. «Wenn es irgendwann zu einem Angriff kommen sollte», sagt Andrä, «dann stehen wir bereit.» Es gehe auch um «eine glaubhafte und robuste Abschreckung». Der Frage, ob die Schweiz angesichts derart angespannter Zeiten ihre Neutralität ablegen und dem Nato-Bündnis beitreten soll, weicht Andrä diplomatisch aus: «Das müssen die Schweizer selbst entscheiden. Es gibt ja sicherlich Gründe, weshalb die Schweiz neutral ist.»

Kommandant Daniel Andrä.

Kommandant Daniel Andrä.

Lisa Engler/Bundeswehr

Nach rund 45 intensiven Minuten endet die Übung «Rising Griffin» in den Wäldern von Litauen. Die Angreifer wurden vom Nato-Gefechtsverband erfolgreich zurückgedrängt. Im Ernstfall wäre der Vormarsch der russischen Truppen zumindest verzögert worden. «Wir senden ein starkes Signal an jeglichen potenziellen Aggressor, dass es ein hohes Risiko ist, Nato-Gebiet anzugreifen», sagt Oberstleutnant Joachim, der seinen Nachnamen aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nicht nennen möchte.

Der US-Kommandant ist unzufrieden

Und Chris, 54, ein Major der belgischen Armee, traut der russischen Führung fast alles zu. «Die Regierung in Moskau hat in den letzten Jahren oft genug gelogen. Wir müssen wachsam sein.» Der Angriff gegen die Ukraine habe die Sinne der Truppe geschärft: «Das war auch für uns ein Weckruf.»

Und der US-Kommandant? Er ist unzufrieden. Sein Bradley ist auf eine Mine aufgefahren, im Militärjargon heisst das Verdikt «Nicht erfüllt». Das dürfte auch in der Nachbesprechung zu Reden geben. Dass sich ausgerechnet die Amerikaner für die Übung in die Rolle der russischen Angreifer begeben, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Dass die Angreifer dann auch noch den Kampf verlieren, wird von der Nato als Signal nach aussen hin gerne so aufgenommen. Der Ärger der Bradley-Crew über das missratene Manöver dürfte schon am Abend verflogen gewesen sein.

Vorbereitung auf die Übung «Rising Griffin».

Vorbereitung auf die Übung «Rising Griffin».

Lisa Engler/Bundeswehr