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Die Entführung der mutigen 38-Jährigen ist der jüngste Schlag gegen die Protestbewegung in Weissrussland. Das Regime hat eine einfache Erklärung für den Vorfall.
Vor dem Museum für Zeitgenössische Kunst in Minsk soll es passiert sein: Ein schwarzer Kleinbus hielt an, maskierte Unbekannte stürmten heraus und zerrten Maria Kolesnikowa in den Wagen. So schildert das eine Augenzeugin. Und so ist das hier in Weissrussland in den vergangenen Wochen hundertfach vorgekommen.
Das jüngste Opfer dieser brutalen politischen Entfernungstaktik war die letzte der drei Frauen, die bei den Wahlen in Weissrussland vor einem Monat versuchten, den Langzeitherrscher Alexander Lukaschenko in die politische Pension zu schicken. Die Spitzenkandidatin Swetlana Tichanowskaja ihre Beraterin Veronika Zepkalo sind nach den Tumulten ins Ausland geflohen. Kolesnikowa blieb. Jetzt fehlt von der 38-Jährigen jede Spur.
Der Koordinierungsrat, ein politisches Instrument der weissrussischen Opposition, vermutet eine Festnahme. Das Innenministerium und die Polizei bestreiten das. Stattdessen wollen die Behörden jetzt wegen einer möglichen Entführung ermitteln. «Entführt» worden sind inzwischen auch der Pressesprecher und der Sekretär des Koordinationsrats.
Das Verschwinden von Maria Kolesnikowa ruft unter den Demonstrierenden in der weissrussischen Stadt Grodno schaurige Erinnerungen wach. Schon 1999 waren die drei wichtigsten Oppositionspolitiker des Landes spurlos verschwunden, darunter der ehemalige Innenminister Juri Sacharenko. Bis heute fehlt von ihnen jede Spur. Mutmasslich sind sie Opfer von Lukaschenkos Todesschwadronen geworden. Der mutmassliche Mörder Sacharenkos ist 2018 in die Schweiz geflohen und hat sich um Asyl beworben. Er stellt sich als Opfer des Regimes dar und hat die Tat gestanden.
Doch vom Verschwinden ihrer Anführer lässt sich die Protestbewegung nicht einschüchtern. «Keine Sorge, die Proteste gehen weiter», versichert eine Aktivistin in Grodno im Gespräch mit dieser Zeitung. Und Präsidentschaftskandidatin Tichanowskaja machte den Demonstranten aus dem litauischen Exil Mut:
«Je mehr die Behörden uns einschüchtern, desto mehr Menschen werden auf die Strasse gehen.»
Auch die jüngsten Misserfolge kann die Bewegung nicht stoppen: Erst am Sonntag war es den Sicherheitskräften gelungen, einen grossen Protestmarsch in Grodno zu verhindern – während in der Hauptstadt Minsk erneut Zehntausende auf die Strasse gingen. «Unsere Revolution ist noch keinen Monat alt, wir lernen dazu», kommentierte eine Administratorin in einem oppositionellen Chat.
Begonnen hatte es am Sonntag wie üblich. Auf dem zentralen Leninplatz feierte sich die Weissrussische Armee, die rund um Grodno gerade einen angeblichen Nato-Einmarsch verhindert. Im Stadtpark gegenüber wurde Linsensuppe aus der Militärküche ausgeschenkt. Aus den Boxen eines Armeelasters plärrten sowjetische Schlager.
Die wahre Schlacht indes wird ohne Unformen geschlagen. Und sie richtet sich gegen das eigene Volk. Sie sind schwarz gekleidet und durchtrainiert, alle mit Gesichtsmasken und keinerlei Abzeichen.
«Ich verriegle alle Türen, sicher ist sicher.»
So sagte das der Taxifahrer und zeigt auf die Gruppe, die sich offenbar für einen Einsatz am nahen Sowjetischen Platz bereit machte. Das war am Sonntag. Einen Tag später haben mutmasslich solche Einsatzkräfte in Minsk Maria Kolesnikowa geschnappt.
Sobald die Kleinbusse mit den verdunkelten Scheiben in Grodno auftauchen, ziehen sich die Protestierenden schleunigst zurück. Die Bewegung hat dazugelernt – auch aus der jüngsten «Entführung» ihrer mutigen Anführerin.