Greenwood in Tulsa war einst ein florierendes afroamerikanisches Quartier. Doch dann kam der Massenmord vom 1. Juni 1921. Jetzt wollen die Opfer endlich Gerechtigkeit.
Sie ist 107 Jahre alt. Aber die Nacht des Massakers, als die weisse Bevölkerung von Tulsa (Oklahoma) sich dazu entschloss, ein Schwarzen-Viertel dem Erdboden gleichzumachen und Hunderte von Menschen zu töten, verfolgt Viola Fletcher noch heute.
«Ich kann die Körper der Schwarzen sehen, die auf der Strasse liegen.»
Dies sagte die Afroamerikanerin kürzlich vor einem Ausschuss des Repräsentantenhauses in Washington. Auch an die Flugzeuge will sie sich erinnern können, die das Quartier am Morgen des 1. Juni 1921 unter Beschuss nahmen. Sie höre die Schreie der Opfer, deren Zahl auf gegen 300 geschätzt wird. «Unser Land mag diese Geschichte vergessen haben», sagte Viola Fletcher. «Ich kann nicht. Ich will nicht.»
WATCH: Complete statement from 107-year-old Viola Fletcher, the oldest living survivor of the Tulsa Race Massacre: "I'm here seeking justice and I'm asking my country to acknowledge what happened in Tulsa in 1921."
— CSPAN (@cspan) May 19, 2021
Full video here: https://t.co/zsDBRKWjCK pic.twitter.com/hJFv4GY3mt
Fletcher hat recht: Die Geschichte des «race massacre» von Tulsa war lange Jahre verschüttet. Der Publizist Tim Madigan, der 2001 eines der ersten Bücher über die Vorfälle in der Kleinstadt an der Grenze zum Wilden Westen publizierte, spricht von einer «Verschwörung des Schweigens»: Weder Täter noch Opfer hätten ein Interesse daran gehabt, öffentlich über das Gemetzel zu sprechen. Die Täter schwiegen, weil sie eine Strafverfolgung befürchteten, auch wenn sich viele keiner Schuld bewusst waren. Die Opfer hielten still, weil sie traumatisiert waren. Und weil sie Angst vor weiteren Gewaltakten hatten.
Immerhin: 100 Jahre später scheint ein Ruck durch Tulsa zu gehen. Die Stadt – die sich in den vergangenen Jahren als Dienstleistungszentrum neu erfunden hat und aktuell gegen 400'000 Einwohnerinnen und Einwohner zählt – will sich ihrer Vergangenheit stellen.
Dafür verantwortlich ist auch Phil Armstrong, der Projektmanager der «1921 Tulsa Race Massacre Centennial Commission». Der temperamentvolle Afroamerikaner koordiniert die Feierlichkeiten, an denen Tulsa dem Massaker gedenken will und beaufsichtigt die Schlussarbeiten an einem Museum, in dem erstmals die ganze Geschichte des brutalen Gemetzels erzählt werden soll. Armstrong sagt:
«Die Zeit ist reif für die ganze Wahrheit.»
Greenwood hiess das Viertel, das 1921 nordöstlich der Bahngleise der «Frisco Lines» begann, dort wo sich heute Phil Armstrongs Büro befindet. Es war ein ganz und gar aussergewöhnlicher Ort in Amerika: 35 Strassenzüge, in denen gegen 12'000 dunkelhäutige Menschen ihrem Alltag nachgehen konnten, ohne ständig Angst zu haben, in Konflikt mit den strikten Rassentrennungsgesetzen zu treten.
Greenwood war eine Stadt in der Stadt. Das Quartier besass Läden, Restaurants, Hotels, Kinos, Kirchen, Zeitungsredaktionen und Arztpraxen, die Schwarzen gehörten und in denen Schwarze als Kunden oder Gäste gerne gesehen waren. Armstrong sagt: «In der Geschichte Amerikas gibt es nichts Vergleichbares», kein anderes soziales Bezugssystem, in dem schwarze Amerikaner zu Beginn des 20. Jahrhunderts derart unbeschwert leben konnten – selbst legendäre Viertel wie Harlem in New York City oder die U Street in Washington müssten hinter der «Black Wall Street», wie Greenwood auch genannt wurde, zurückstehen.
For months, my colleagues and I have been immersed in the world of archival maps, photographs, city directories, books, newspapers, survivor accts. and census data to recreate what was lost 100 years ago in Greenwood, also known as the “Black Wall Street”. https://t.co/9WHdLN5CtF pic.twitter.com/AUYX0F0Wnm
— Anjali Singhvi (@singhvianjali) May 25, 2021
Natürlich war diese Erfolgsgeschichte der mehrheitlich weissen Bevölkerung von Tulsa ein Dorn im Auge. Auch in Oklahoma, 1907 als 46. Bundesstaat in die Union aufgenommen, galten dunkelhäutige Amerikaner als Bürger zweiter Klasse. Dieser Konflikt spitzte sich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zu, als Afroamerikaner aus dem Militärdienst nach Hause zurückkehrten und sich nach den Erfahrungen in Europa nicht länger schikanieren lassen wollten. Hinzu kam, dass Tulsa eine Boom-Stadt war. Auch dank der florierenden Erdöl-Industrie wuchs die Stadt im Indianer-Siedlungsgebiet von 1910 bis 1920 um mehr als 50'000 auf 72'000 Einwohner.
Ein Funke genügte, um diese gefährliche Mischung zur Explosion zu bringen. Am 30. Mai gibt ein 19-Jähriger den Stadtvätern von Tulsa einen Vorwand. Dick Rowland heisst der Teenager, der angeblich eine Vorliebe für schicke Anzüge und hübsche Mädchen besass. An diesem Memorial Day geht er seiner Arbeit nach, als Schuhputzer im Stadtzentrum. Irgendwann am Morgen muss er auf die Toilette gehen, in einem naheliegenden Geschäftshaus, auf der 2. Etage.
Also besteigt er im «Drexel Building» einen alten Lift, wie er das zuvor auch schon getan hat. Dieser Lift wird von Sarah Page bedient, die vielleicht 17 oder vielleicht 15 Jahre alt ist. Sie ist weiss. Dick ist schwarz. Vielleicht interessiert er sich für sie. Vielleicht aber verliert er auch bloss sein Gleichgewicht, als er sich allein mit ihr im Lift aufhält. Jedenfalls berührt Rowland das Mädchen, worauf dieses laut aufschreit.
Eine Spirale beginnt sich zu drehen. Dick rennt davon, Sarah alarmiert die Polizei. Bald einmal tauchen die Ordnungshüter in Greenwood auf, wo der junge Schuhputzer wohnt. Am 31. Mai wird Rowland festgenommen, weil er angeblich ein weisses Mädchen attackiert habe – ein Tabu-Bruch, den Tulsa nicht kommentarlos hinnehmen kann. Bald versammelt sich eine Menschenmenge vor dem Gerichtsgebäude, in dem sich Rowland in Untersuchungshaft befindet. Die Meute will Blut sehen. Als sich die Nachricht in Greenwood verbreitet, dass ein Lynchmord anstehe, machen sich aufgebrachte Afroamerikaner ebenfalls zum Gerichtsgebäude auf. Sie wollen den Teenager beschützen.
Am Abend kommt es zur unvermeidbaren Konfrontation. Ein Weisser fragt einen Schwarzen, warum er eine Pistole auf sich trage. Zur Selbstverteidigung, antwortet der Afroamerikaner, ein Veteran des Ersten Weltkriegs. «Nein, du gibst sie mir», sagt der Weisse. der sich Widerspruch von einem Afroamerikaner nicht gewöhnt ist. «Kommt nicht infrage», gibt der Schwarze zurück. Die beiden liefern sich ein Gerangel. Dann fallen mehrere Schüsse.
Das ist der Auftakt eines Massakers, das selbst in der brutalen Geschichte Amerikas beispiellos ist. Die weisse Meute, blutrünstig und zerstörungswütig, beschliesst, an den Afroamerikanern ein Exempel zu statuieren. Der Angriff auf Greenwood beginnt am frühen Morgen des 1. Juni. Systematisch, mit Unterstützung der lokalen Polizei und der Nationalgarde, legen die schwerbewaffneten Vandalen ein ganzes Stadtviertel in Schutt und Asche. Niemand weiss letztlich, wie viele Menschen genau ermordet wurden. Bis heute ist unklar, wo sie begraben wurden.
Am späten Nachmittag ist der Spuk zu Ende. In Greenwood sind gegen 1250 Gebäude fast vollständig zerstört. Umso erstaunlicher ist, was anschliessend geschieht. Das weisse Tulsa kehrt zum Alltag zurück. Eine gerichtliche Aufarbeitung der Ereignisse bleibt aus. Dick Rowland und Sarah Page verschwinden spurlos.
Das schwarze Tulsa wiederum macht sich dazu auf, den Schutt wegzuräumen und Greenwood wieder aufzubauen. Anfänglich sind vielleicht 10'000 Menschen obdachlos. Doch die «Black Wall Street» kehrt zurück – bis dann in den Sechzigerjahren der Bau einer Autobahn und die Veränderungen im Konsumverhalten dazu führen, dass Greenwood verfällt.
Heute erinnern nur noch wenige Strassenzüge an die einst florierende Nachbarschaft. Abgesehen von Fotografien hätten fast keine Artefakte die vergangenen 100 Jahre überlebt. Umso wichtiger sei deshalb das neue Museum, das den Namen Greenwood Rising trägt und gegen 30 Millionen Dollar kosten solle, erzählt Phil Armstrong. «Es wird uns helfen, die Geschichte zu verstehen.» Und Tim Madigan ergänzt: «Wenn wir dies nicht tun, dann drehen wir uns weiterhin im Kreise.»
Die wohl letzten Überlebenden des Massakers, drei an der Zahl, wollen sich damit allerdings nicht zufrieden geben. Sie fordern eine finanzielle Entschädigung für den erlittenen Verlust – was im Vorfeld der Feierlichkeiten für Unstimmigkeiten sorgte. Viola Fletcher gibt sich ungerührt: «Ich bin 107 Jahre alt und habe nie Gerechtigkeit gesehen», sagte die älteste Überlebende des Massakers in Washington. Ob das Gespräch mit US-Präsident Joe Biden, der Tulsa am Dienstag besuchte und Fletcher zu einer privaten Unterredung empfing, ihr Leid lindern kann, wird sich zeigen.