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Die Proteste in Myanmar, die auf den Militärputsch vor einer guten Woche folgten, werden mittlerweile mit Gewalt bekämpft. Aber durch Schüsse wollen sich die Demonstranten nicht unterkriegen lassen.
«Sie haben auf eine junge Frau geschossen! Und sie hatte gar nichts getan. Sie stand nur am Rand!» Thomas berichtet mit hektischer Stimme, als er den vergangenen Tag in seinem Land rekapituliert. «Die Polizei und das Militär hatten erst Wasserkanonen eingesetzt, um die Menschenmengen aufzulösen. Und dann haben sie geschossen.»
Wahrscheinlich, sagt der 23-jährige, der aus Sicherheit nur seinen englischen Namen nennt, sei die in der Hauptstadt Naypyidaw darnieder geschossene Frau das erste Todesopfer der Proteste. Nicht lange hat es am Dienstag gedauert, bis sich ein Video des Schusses durch die sozialen Medien verbreitet hatte.
Seit einer guten Woche befindet sich das südostasiatische Land Myanmar im Ausnahmezustand. In der Nacht auf den 1. Februar liess das Militär die im November wiedergewählte Staatsrätin Aung San Suu Kyi und weitere führende Politiker festnehmen. Der Vorwurf: Bei der Wahl im November, die die von Aung San Suu Kyi angeführte Partei NLD haushoch gewonnen hatte, habe es sich um Betrug gehandelt.
Obwohl das Militär bis heute keine konkreten Belege für diese Behauptung vorgelegt hat, hat es mittlerweile die Macht an sich gerissen. Zunächst soll für ein Jahr der Ausnahmezustand gelten – offiziell, damit die Ordnung wiederhergestellt werde.
Es ist ein Vorgehen, das nicht nur international, sondern auch im 54-Millionenland selbst bei einer grossen Mehrheit auf Widerwillen stösst. Seit Tagen wird in den grösseren Städten protestiert, einem Versammlungsverbot zum Trotz. «Wir alle haben Angst. Aber wir lassen uns von denen trotzdem nicht einschüchtern», sagt Thomas. «Wir wollen Demokratie.»
Erst ein Jahrzehnt hatte die lang ersehnte Demokratie im Land auf dem Buckel. Durch wiederholte Militärputsche hatten Myanmars Streitkräfte über ein halbes Jahrhundert die Zügel fest in den Händen gehalten, bis 2008 überraschend eine demokratische Verfassung verabschiedet wurde. 2012 wurde dann die langjährige Demokratieaktivistin und Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi ins Amt der Staatsrätin gewählt.
Dabei hatte das Militär auch unter dieser relativ progressiven Verfassung weiterhin grosse Macht. Es kontrolliert die Ministerien für Verteidigung, Grenzangelegenheiten und Inneres. Somit hörten die Beamten, Polizisten und Soldaten auch über die letzten Jahre nicht etwa auf Anweisungen der demokratisch gewählten Staatsrätin, sondern ultimativ aufs Kommando des Obersten Befehlshabers Min Aung Hlaing, der jetzt auch offiziell an der Macht ist.
Allerdings werfen die jüngsten Entwicklungen Fragen auf – wie viele Menschen stehen wirklich hinter Min Aung Hlaing? Diverse Staatsdiener haben diese Tage die Arbeit geschwänzt. «Sogar Polizisten haben sich uns schon angeschlossen», sagt Jack, ein 26-jähriger Demonstrant aus Yangon, der wie Thomas seinen burmesischen Namen nicht nennt und seine Tageseinsätze zwischen Laptop und Strasse variiert.
Jack spricht ebenso fliessendes Englisch, sitzt tagelang am Computer und liket, retweetet und postet Informationen. «Ich bin jetzt so etwas wie ein Amateurjournalist», sagt er und lacht. «Die Menschen müssen doch darüber informiert sein, was hier gerade passiert! Im Staatsfernsehen wird behauptet, alles sei friedlich. Hier ist aber nichts mehr friedlich. Es wird geschossen!»
Es ist ein grosser Unterschied zu Protesten früherer Jahre und Jahrzehnte im Land, die zwar politisch ähnlich motiviert waren, aber ohne soziale Medien auskommen mussten. Im Myanmar von heute weiss die Bevölkerung über wichtige Ereignisse Bescheid, sogar in Minutenschnelle. Damit wiederum haben die im grossen Ausmass jungen Demonstranten Myanmars entscheidende Gemeinsamkeiten mit den Demokratiebewegungen anderer Länder aus der Region.
Auch in Hongkong, Thailand und den Philippinen sind über die vergangenen Monate Menschen in grossen Zahlen auf die Strassen gegangen, um sich gegen autoritäre Regime und für Freiheitsrechte einzusetzen. Immer wieder sind die Proteste dezentral organisiert, wirken mitunter unorganisiert, profitieren aber von der Vernetztheit ihrer Akteure.
«Mit den Aktivisten aus Hongkong habe ich noch nie etwas direkt zu tun gehabt», sagt der 18-jährige Leon Win über Zoom. «Das gilt für die meisten von uns, glaube ich.» Mit der Bewegung dort, in Thailand und den Philippinen sei man trotzdem verbunden. «Über Twitter und Facebook haben wir uns angesehen, wie die es machen. Deswegen gehen viele von uns möglichst mit Regenschirmen oder Gasmasken auf die Strasse, um uns vor Wasserkanonen und Tränengas zu schützen.» Man strecke friedlich die Finger in die Luft, halte die Köpfe hin. Wenn Militär und Polizei wie an diesen Tagen die Nerven verlieren, kann es böse enden. «Aber», sagt Leon Win: «Dann wird es der Rest der Welt gesehen haben.»