Scott Wiener (42) ist City Supervisor der Stadt San Francisco, und damit quasi ein Mitglied der Stadtregierung. Wiener ist für den District 8 verantwortlich, zu dem unter anderem Twin Peaks, der Mission District und das Schwulen- und Lesbenviertel Castro gehören. Im Interview mit „Sunday in America“ sagt Wiener, weshalb er sich vor Mitt Romney fürchtet, wie stark San Francisco unter der Krise leidet, und ob Amerika bereit für einen schwulen Präsidenten wäre.
Wie wurde San Francisco bisher von der Wirtschaftskrise getroffen?
Scott Wiener: Nicht so stark wie Kalifornien oder das Land. Unsere Arbeitslosenrate ist unterdurchschnittlich, also weniger als 8 Prozent. Wir haben sogar in letzter Zeit viele Jobs kreiert. Unser Tourismus blieb stark und die Technologie-Branche wächst weiter.
Dennoch sieht man viel Armut in San Francisco. An jeder Ecke betteln Obdachlose um Geld. Wie passt das zusammen?
Es gibt hier so viele Obdachlose, weil wir tolles Wetter haben. Hier ist es nie bitterkalt. Die meisten weigern sich, in eine Notunterkunft zu gehen und campen lieber in einem Park oder in der Strasse. Politisch wird das Thema sehr leger angegangen, man lässt vieles durchgehen. Eigentlich dürfte man tagsüber nicht auf der Strasse liegen oder öffentlich urinieren. Aber es geschieht trotzdem. Ich persönlich finde dieses asoziale Verhalten der Obdachlosen unakzeptabel. San Francisco macht es den Obdachlosen zu einfach.
Hat ihre Zahl mit der Krise zugenommen?
Das glaube ich nicht, zumindest nicht so, dass man es sieht. Aber es gab sicher viele Leute, denen es gut ging, in der Krise aber ihr Haus verloren und seither auf der Couch von Freunden oder in ihrem Auto schlafen.
Was würde es für San Francisco bedeuten, falls Mitt Romney die Präsidentschaftswahl Wahl gewinnt?
Mitt Romney wäre ein Desaster für San Francisco! Die Republikaner wollen den lokalen Regierungen nicht helfen und nicht in die Infrastruktur investieren. Wir bekämen weniger Staatsgelder für Sozialleistungen, öffentlicher Verkehr, und so weiter. Vor allem städtische Regionen würden also leiden. Unser Hochgeschwindigkeitsprojekt zum Beispiel, eine Zugverbindung von Sacramento nach San Diego, wäre garantiert in Gefahr.
Sie stehen zu Ihrer Homosexualität, genau wie in den 70er-Jahren San Franciscos berühmtester City Supervisor, Harvey Milk, der als erster schwuler Politiker in den USA in ein Amt gewählt wurde. Was bedeutet ihnen das?
Es wird nie einen zweiten Harvey Milk geben. Ich möchte also nicht so tun, als wäre ich er, auch wenn er mein Vorbild ist. Aber er legte die Grundsteine für uns und zeigte, was es bedeutet, ein schwuler Politiker zu sein und wie man sich am besten für die Anliegen der LGBT-Gemeinschaft einsetzt. (Anmerkung: LGBT steht für Lesbisch, Schwul, Bisexuell, Transsexuell)
Wie gegenwärtig ist er heute noch?
Es gibt viele Strassen und Bars, die nach ihm benannt sind. Und in politischen Debatten wird er immer wieder zitiert. Es gibt einen Harvey-Milk-Tag und im Rathaus haben wir eine Büste von ihm.
Milk wurde 1978 in seinem Büro hier im Rathaus erschossen. Könnte so etwas wieder passieren?
Ja. Politik bringt nun mal viele Emotionen hervor. Auch bei Leuten, die ihre Emotionen nicht kontrollieren können. Ich denke zum Beispiel an die Tragödie in Arizona, als der Täter unter anderem der Demokratin Gaby Giffords in den Kopf schoss. Es kommen immer wieder Leute ins Rathaus hier in San Francisco, die sehr wütend sind und mich oder meine Kollegen sehen möchten. Ich habe keine Angst, aber ich weiss, dass ich als öffentliche Person dieser Gefahr ausgesetzt bin.
Noch immer gibt es Hass-Verbrechen gegen Schwule in den USA. Auch in San Francisco?
Ja, sehr regelmässig sogar. Das war schon immer so. Viele solcher Verbrechen werden auch gar nicht gemeldet. Ich höre immer wieder von Schwulen und Lesben, die verbal oder auch physisch angegriffen wurden.
Was hat Präsident Obama in den letzten vier Jahren für die LGBT-Gemeinde getan?
Sehr viel. Er hat die diskriminierende „Don’t ask, don’t tell“-Regel abgeschafft (Anmerkung: Dieses Gesetz verbot es homosexuellen Soldaten, öffentlich zu ihrer sexuellen Orientierung zu stehen). Er hat verschiedene Direktiven erlassen für den faireren Umgang mit homosexuellen Bundesangestellten. Und im Mai hat er sich öffentlich für die gleichgeschlechtliche Ehe ausgesprochen.
In Kalifornien gibt es die gleichgeschlechtliche Ehe hingegen nach der Abstimmung über die Vorlage „Proposition 8“ nicht mehr. Hat San Francisco damit seine Rolle als Zufluchtsort für Schwule und Lesben verloren?
Nein, San Francisco ist immer noch ein Zufluchtsort mit einer riesigen, vielfältigen LGBT-Gemeinde, die rund 15 Prozent der Einwohner ausmacht. Das ist sicher mehr als irgendwo sonst. Hier gibt es deswegen auch mehr Haustiere als Kinder. Im Castro-Viertel sind rund zwei Drittel der Bewohner schwul oder lesbisch. San Francisco ist auch ein sehr wichtiger Ort für Schwule und Lesben in der ganzen Welt. Viele kommen hierher um auszugehen, in Bars und Clubs, Freunde zu besuchen, oder fürs Shopping.
Glauben Sie, dass Sie die gleichgeschlechtliche Ehe auf nationaler Ebene noch erleben?
Ja. Na ja, vielleicht nicht in jedem Staat. Aber in letzter Zeit hat sich die Diskussion darüber beschleunigt. Vor zwanzig Jahren, als die gleichgeschlechtliche Ehe erstmals aufs politische Parkett kam, schien es etwas völlig Unrealistisches. Und heute ist praktisch jeder Demokratische Politiker dafür. Der Präsident hat sich dafür ausgesprochen. Und auch einige Republikaner distanzieren sich mehr und mehr von einem Verbot.
Was sind die anderen grossen politischen Themen der LGBT-Gemeinschaft in San Francisco?
Die gleichen wie von heterosexuellen Bürgern: Der öffentliche Verkehr, zu wenig Taxis, teure Mieten, und so weiter. Und dann gibt es einige spezifische Themen. Wir haben immer mehr LGBT-Senioren, die zum Teil ihre Wohnung nicht bezahlen können, oder nicht mit homophoben Pensionierten im Altersheim leben möchten, und noch immer haben leider viele Menschen HIV. In San Francisco sind zirka 10000 Menschen HIV-infiziert.
Wie gross ist der Einfluss von Kalifornien auf nationaler Ebene bei Entscheidungen bezüglich LGBT-Fragen?
Wir sind Trendsetter. Wir machen Dinge, über die die Leute lachen. Oft halten sie uns für verrückt, und fünf Jahre später machen es alle. Die Domestic Partnerships (Anmerkung: nicht eheliche Lebensgemeinschaften) starteten hier, um nur ein Beispiel zu nennen. Auch wie wir mit Aids umgehen, war vorbildhaft für andere Staaten.
Barack Obama ist der erste schwarze Präsident der USA. Ist das Land bereit für einen schwulen oder eine lesbische Präsidentin?
Irgendwann vielleicht, aber heute sicher noch nicht. Zuerst wird es wohl einen weiblichen, jüdischen oder hispanischen Präsidenten geben. Bis jetzt war das Präsidentenamt jedenfalls nicht sehr divers (lacht).