Russland hat eine neue Bildungsministerin. Sie sagt «Stalin war ein Segen für unser Land». Die Aufarbeitung der Schattenseiten russischer und sowjetischer Geschichte wird im Zuge der Patriotismuswelle im Land immer heikler.
Zwei Worte hatte die Moskauer Wirtschaftszeitung «Wedomosti» gefunden, Begriffe, die das Entsetzen der Redaktion über den scheinbar unscheinbaren Wechsel in Russlands Bildungsministerium deutlich machten. «Oh Hilfe!», schrieb der Kommentator des Tages über die Berufung von Olga Wassiljewa (Bild) zur neuen russischen Bildungsministerin und hielt nicht mit der Angst zurück, dass «diese äusserst radikale Variante» nun vor allem eines propagieren dürfte: ein «objektives Geschichtsbild», ganz nach sowjetischer Tradition. Wassiljewa ist Kirchenhistorikerin und die erste Frau auf diesem Posten. Als «graue Maus» bezeichnen sie jene, die sie kennen. Eine vermeintlich Unauffällige, die allerdings bereits vor ihrer jüngsten Beförderung an Schrauben drehte, die auch Russlands Präsident Wladimir Putin am Herzen liegen. Die 56-Jährige war in der mächtigen Präsidialadministration für die «patriotische Erziehung und die geistig-moralischen Grundlagen der Jugend» zuständig. Diese Jugend soll «mit einem Stolzgefühl für ihr Land erzogen werden». Mit Helden und viel Liebe zur Heimat, sagte Wassiljewa.
Im patriotisch aufgerüsteten Russland gibt ein solches «positives Geschichtsbild» den Menschen das Gefühl, der Staat und seine Führung seien entschlossen, gegen den Rest der Welt anzutreten. Eine Welt, die in Freund und Feind aufgeteilt ist. Es lebt ein Nationalstolz auf, der sich leicht mit sowjetischen Stereotypen verbinden lässt: der Westen als Quelle allen Übels in Russland. Es ist eine bequeme Erklärung für die Missstände im Land. Für die dunklen Kapitel der russischen und sowjetischen Geschichte bleibt da kaum Raum.
Wie auch, wenn selbst die neu ernannte Bildungsministerin Sätze von sich gibt wie: «Stalin war bei all seinen Defiziten ein Segen für unser Land, weil er sich am Vorabend des Krieges mit der Einigung der Nation befasst hatte, indem er die Helden des vorrevolutionären Russlands hat auferstehen lassen und sich der Propaganda der russischen Sprache widmete. All das liess ihn im Grossen und Ganzen diesen Krieg gewinnen.» Das sagte sie auf einer Veranstaltung der Regierungspartei Einiges Russland in Moskau. Kein Wort verlor sie über die Brutalität des sowjetischen Diktators, über die Opferzahlen, die Vertreibungen ganzer Völker, die Kollektivierung der Landwirtschaft, über die Hungerkatastrophen oder den Massenterror der 1930er-Jahre. Die historische Wahrheit sei eben nicht immer die beste, sagte sie kürzlich. Die Zahlen von Stalins Opfern hält Olga Wassiljewa ohnehin für «stark übertrieben» und rät Schülern und Studenten, Material, in dem sie womöglich etwas Schreckliches und für sich Erschreckendes gefunden hätten, einfach wieder wegzulegen.
Eine selbstkritische Erinnerungskultur sieht anders aus. Eine solche hatte es allerdings noch nie einfach in einem Land, in dem selbst das bislang einzig bestandene Museum auf dem Gelände eines ehemaligen Arbeitslagers im Norden des Landes aus politischen Gründen erst kürzlich die Türen schliessen musste. Eine Aufarbeitung von Verbrechen der Sowjetzeit findet lediglich in einem kleinen Kreis statt. Erst vor wenigen Wochen präsentierte die Menschenrechtsorganisation Memorial, die sich seit 1988 für genau diese Aufarbeitung einsetzt, eine CD mit 40 000 Gulag-Schergen von 1935 bis 1939. Auf allzu grosse Resonanz ist die Organisation damit nicht gestossen. Zudem hat Memorial wieder mehr Probleme mit dem Staat. Erst diffamierte dieser die Organisation als «ausländischer Agent», weil sie Gelder aus dem Ausland annahm. 2014 wollte das russische Justizministerium Memorial ganz liquidieren – erfolglos. Die unermüdlichen Mitarbeiter machen weiter, merken aber, wie Memorial-Gründungsmitglied Arseni Roginski sagt, dass das ohnehin schwache Interesse der Bevölkerung an ihrer Arbeit nachlasse.
Dabei gibt es in nahezu jeder Familie im heutigen Russland Opfer und Täter des Gulag, manchmal ist das sowieso kaum zu unterscheiden. Ins Massenbewusstsein ist die Aufarbeitung dieser Zeit aber bis heute nicht eingedrungen. Einen Begriff für «Vergangenheitsbewältigung» kennt das Russische erst gar nicht.
In den Schulbüchern – seit einiger Zeit gibt es ein einheitliches Geschichtsbuch, darauf hatte Putin seit 2003 bestanden – erscheint Stalin als grossrussischer Patriot und bedeutender Modernisierer. Der Gulag, dieses Netz an Arbeitslagern, das für die Repression des sowjetischen Regimes steht, wird als «Tragödie» empfunden, wie ein schweres Schicksal, das über das russische Volk hereingebrochen ist und somit mit Geduld ertragen werden musste. Die Schuldfrage wird dadurch ausgeblendet. Der brutale Diktator wird Schülern als ein nachdenklicher und gerechter Herrscher präsentiert, der für die positive Entwicklung in der sowjetischen Geschichte steht. Einer, der die Jahrhunderte währende russische Rückständigkeit überwunden hatte und den Aufstieg der UdSSR zur Supermacht symbolisiert. Es ist ein Status, den die heutige politische Führung in Moskau gern zurückerlangen will.
Das Erbe der stalinistischen Schreckenszeit instrumentalisiert der Kreml aus geschichtspolitischen Gründen. Denn diese dient dem reibungslosen Funktionieren von Russlands autoritärem Regime. Mit dem Fördern eines «historischen Optimismus» und der «Bereitschaft zur Selbstaufopferung der Jugend» verschliesst Moskaus Führungsriege die Augen vor einer echten Aufarbeitung des Traumas stalinistischen Terrors.
Gewiss, Bemühungen, über die Schrecken der Vergangenheit zu informieren, gab und gibt es weiterhin. Seit 2015 steht in Moskau ein Neubau für das einzige Gulag-Museum im Land, das zuvor in einer Miniwohnung untergebracht war. Die museumspädagogische Umsetzung der Lagerschrecken gestaltet sich allerdings schwierig. Vor allem die Jelzin-Jahre aber hatten die besten Rahmenbedingungen für einen öffentlichen Diskurs über die Stalin-Ära geliefert. Eine Zeit lang fand eine Erinnerungspolitik «von unten» statt.
Noch vor fünf Jahren träumte Michail Fedotow, damals wie heute Vorsitzender des Menschenrechtsrates beim Präsidenten der Russischen Föderation, von zahlreichen Gedenkstätten, von finanziellen Entschädigungen für die Opfer des stalinistischen Regimes, von Aufklärungsbüchern, von der Öffnung der Archive. «Der Totalitarismus sitzt in jedem Russen. Er muss da raus.» Im jetzigen, von patriotischem Pathos durchtränkten Russland hat es dieser Totalitarismus schwer, aus den Köpfen zu verschwinden.
Inna Hartwich