MOSKAU: «Wir wurden vom Frontfieber erfasst»

Porträt von Stefan Scholl (53), Korrespondent in Russland, für die Neue Luzerner Zeitung.

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Stefan Scholl, unterwegs im Kriegsgebiet der Ukraine. (Bild: zvg)

Stefan Scholl, unterwegs im Kriegsgebiet der Ukraine. (Bild: zvg)

Stefan Scholl (53) lebt seit 17 Jahren in Russland. Er hat am Osteuropa-Institut Berlin osteuropäische Geschichte und russische Literatur studiert und die Deutsche Journalistenschule in München absolviert. Er ist mit einer Russin verheiratet und hat zwei Kinder.

Sie berichten über den Krieg in der Ostukraine: gefallene Soldaten, Menschen, Trümmerfelder und zerrissene Familien. Werden Sie von solchen Bildern verfolgt?

Stefan Scholl: Nein, Albträume habe ich deswegen nicht und auch keine Phobien. Aber ich bin froh, dass ich zwei Töchter und keine Söhne habe, die in Russland vielleicht einmal zur Armee müssten.

Können Sie solche Bilder einfach als Teil Ihres Berufes abhaken?

Scholl: Die letzten Reportagen waren anstrengend. So war ich auf einem Schlachtfeld, wo die Russen einen ukrainischen Panzerkonvoi zusammengeschossen hatten. Ein Mann im Panzerturm wurde bei einem Volltreffer hoch in die Luft geschleudert und blieb in Hochspannungsleitungen hängen. Während Tagen hat niemand die Leiche geborgen. Auch die Toten am Strassenrand blieben liegen. Die Separatisten hatten schlicht keine Lust, sie zu begraben.

Geht Ihnen das Elend in den Kriegsgeschehen nicht unter die Haut?

Scholl: Ich habe immer eine Kamera dabei. Die wirkt wie ein Schutzmechanismus. Wenn ich solche Szenen durch die Linse betrachte, relativiert sich die Wirklichkeit. Man bekommt das Gefühl von Distanz.

Wird man ihn Ihrem Job nicht abgebrüht und stumpf?

Scholl: Ich muss emotional offen bleiben. Wenn ich das Elend nicht spüren würde, wäre etwas nicht mehr in Ordnung. Als vor einem Jahr die Gewalt auf dem Maidan-Platz in Kiew eskalierte und Schwerverletzte und Tote in unser Hotel geschleppt wurden, habe ich geheult. Andere Leute lachten aus purer Verzweiflung und Hilflosigkeit.

Wie stark begeben Sie sich bei Reportagen selbst in Gefahr?

Scholl: Ich vermeide es, an die vorderste Front zu gehen, ich bin kein Kriegsprofi. Ich lebe in Moskau und bin Russland-Korrespondent. Derzeit steht die Ost­ukraine im Fokus. Die Region und die Leute dort stehen unter permanentem Artilleriebeschuss. In Lugansk zum Beispiel erleben sie seit Ende Mai fast täglich Artilleriefeuer.

Also ist Ihre Devise nicht: je näher beim Geschütz, desto bessere Storys?

Scholl: Gar nicht. Einmal habe ich mich jedoch in eine Situation hineinmanövriert, die schwachsinnig war. Zusammen mit einem Reporterkollegen begleiteten wir eine ukrainische Einheit bei einem Gegenangriff. Wir haben uns in einem Jeep mitnehmen lassen. Zum Glück wurde der Angriff abgebrochen, weil die Gefahr wegen feindlichen Artilleriefeuers enorm war.

Warum haben Sie sich trotzdem dar­auf eingelassen?

Scholl: Wir wurden vom Frontfieber erfasst. Obwohl wir wussten, dass es eine völlig falsche Entscheidung war.

Ein alter Bewohner von Mirinowski sagte Ihnen, dass Hunde und Katzen Jagd auf Menschen machen werden. Haben Sie solches erlebt oder gesehen?

Scholl: Diese Aussage halte ich für Unsinn. Aber sie zeigt, welche Ängste die Menschen entwickeln.

Das Grauen geht offenbar weiter, als man es sich vorstellen kann?

Scholl: Natürlich sind viele Leute geflüchtet und haben zahlreiche Haustiere zurückgelassen. Aber bis Tiere so verwildern, dass sie Leute angreifen oder sich über Tote hermachen, müsste einiges geschehen.

Ihre Geschichten schockieren und faszinieren zugleich. Lassen Sie die schlimmsten Vorfälle bewusst aus, um die Leser nicht zu schockieren?

Scholl: Ich versuche, das Drama nicht auszuweiten. Ich weide mich nicht an grauenvollen Details. Andererseits hat es auch keinen Zweck, Dinge nicht zu nennen, die geschehen.

Sie beschrieben, dass einige Leute vor Ort nur mit russischen Journalisten reden. Wie positionieren Sie sich als neutraler Reporter?

Scholl: Es bildet sich auf ukrainischer Seite ein Misstrauensprozess. Viele Leute sind von der westlichen Berichterstattung enttäuscht. Ich als Deutscher, der aus Russland her in das Land kommt, wurde in Charkow festgenommen, weil die Grenzbeamten Angst hatten, ich würde russische Propaganda machen. Der zuständige Presseoffizier konnte die Grenzpolizisten aber per Handy überzeugen, dass ich bei der ukrainischen Armee akkreditiert bin.

Wie bewegen Sie sich in den Krisengebieten?

Scholl: Meistens bin ich mit russischen Kollegen unterwegs. Wenn wir Informationen von Ukrainern wollen, kann ich als Nichtrusse das Eis brechen. Umgekehrt haben sie es bei den Rebellen einfacher.

Die russischen Journalisten stehen bestimmt auf dünnem Eis. Kommt es zu Übergriffen auf Reporter?

Scholl: Das gibt es, aber nicht nur, weil man die falsche Nationalität hat. Man kann sich in Schwierigkeiten bringen, wenn man Bilder auf Facebook postet. Wenn die Leute deinen Namen kennen, suchen sie im Internet, um zu sehen, was du berichtest.

Was ist daran gefährlich?

Scholl: Ein ukrainischer Journalist hat kürzlich gegen die Regeln verstossen, indem er eine ukrainische Kriegspsychologin fotografiert hat, die an der Front war. Damit hat er die Frau in Lebensgefahr gebracht, weil er sie den Gegnern praktisch als Ziel präsentierte. Seine eigenen Leute haben ihn eine Nacht lang zusammengeschlagen.

Wenn man Nachrichten aus der Ostukraine verfolgt, muss man beschämt sein, dass man sich hier über Carparkplätze oder Lehrerlöhne oder die Aufhebung des Euro-Mindestkurses aufregt. Haben Sie Verständnis für solche Probleme?

Scholl: Wie gesagt, bin ich Russlandkorrespondent. Russland ist für mich im Alltag friedlich. Es geht hier wegen der Krise vor allem um Wirtschaftsgeschichten. Doch derzeit lebe ich ein Doppelleben. Durch den Krieg hat sich die Perspektive verändert. Wenn man in der Ostukraine ist, spürt man, dass die Situa­tion eskaliert, dass immer mehr Truppen aufmarschieren und zwar auf beiden Seiten.

Wie gross ist das Interesse der ­Moskauer am Konflikt in der Ukraine?

Scholl: Sehr gross. Aber die interessiert nicht, was ich ihnen erzähle. Sie glauben der Propaganda der eigenen Presse. Dass der Aggressor Amerika ist, der steuert, bezahlt und kontrolliert.

Die westliche Wahrnehmung ist, dass Putin und die Separatisten die Aggressoren sind. Wie sehen Sies?

Scholl: Auch für mich ist Putin der Aggressor. Aber keineswegs alle Separatisten. Sie sind zum Teil auch Opfer der Propaganda. Dazu beschiesst die Ukraine sie mit Artillerie, kein Wunder also, dass die meisten nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen. Viele Leute auf beiden Seiten haben russische Verwandte. Es ist auch ein Bürgerkrieg.

Und wie gehen die Leute mit dem Krieg um?

Scholl: Sie leben mit der Situation. Was sollen sie sonst? Solange ihre Stadt nicht täglich beschossen wird, vergleichen die Leute diese Gefahr mit derjenigen, die im Strassenverkehr lauert.

Was müsste geschehen, damit Sie die Region verlassen.

Scholl: Im Moment habe ich nicht vor, Russland zu verlassen. Meine Frau ist Russin, die nicht in den Westen will. Meine Kinder sind auch in erster Linie russische Kinder. In absehbarer Zukunft sehe ich keine Alternative zu meinem Job in Russland. Einen Plan B hätte ich nicht für den Fall, dass ich das Land verlassen müsste. Obwohl der neue Kalte Krieg mich unter Umständen dazu zwingen könnte.

Das klingt etwas ungewiss. Wie schätzen Sie die Bedrohung ein?

Scholl: Keine Seite zeigt Friedenswillen. Niemand weiss, was passiert, wenn die Amerikaner Waffen liefern würden. Oder was geschieht, wenn die Russen weiter vorrücken würden, was sie leicht könnten. Die Menschheit hat sich nicht so weit entwickelt, als dass es nicht weiter eskalieren könnte.

Interview Roger Rüegger

Porträt: Die bisher erschienenen Beiträge finden Sie im Internet unter www.luzernerzeitung.ch/serien

Die Menschen hinter den News

Stefan Scholl

Korrespondent in: Russland Alter: 53 Jahre