EU
Nach der Rettung Griechenlands: Ist Europa am Ende?

Das Griechen-Drama ist vorerst beendet, doch der Preis ist hoch: Auf dem Kontinent herrscht miese Stimmung.

Stefan Schmid
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Die Europäische Union ist in einer tiefen Sinnkrise. Nebst den Rechtspopulisten, die schon lange gegen Brüssel vom Leder ziehen und nationale Alleingänge propagieren, hadern zunehmend auch Linke mit dem Einigungsprojekt. Der Umgang der reichen Nordeuropäer mit den bankrotten Griechen wird im sozialliberalen Lager vielerorts als «Diktat» unter Anführung von «Kleinsparer» Wolfgang Schäuble betrachtet. Pro-europäische Politiker, darunter auch Schweizer Sozialdemokraten, distanzieren sich öffentlich vom Projekt EU. Andere, wie der ehemalige deutsche Aussenminister Joschka Fischer, warnen gar vor dem Zerfall der EU: Merkel und Schäuble hätten sich fatalerweise für ein deutsches Europa anstatt ein europäisches Deutschland entschieden, schreibt Fischer in der «Süddeutschen Zeitung».

So ist die EU entstanden

Die EU wurde mit dem Ziel gegründet, künftige Kriege in Europa zu vermeiden. Sie entstand auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs. 1950 gründeten die Kriegsgegner Bundesrepublik Deutschland und Frankreich sowie Belgien, die Niederlande, Luxemburg und Italien die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Diese entwickelte sich seither zu einem Klub mit 28 Mitgliedern, der in zahlreichen Politikbereichen gemeinsame Entscheidungen trifft. Die EU ist kein Bundesstaat wie die USA oder die Schweiz, aber doch mehr als nur ein loser Staatenbund wie etwa der Mercosur in Südamerika. (ssm)

Es fehlt eine Erzählung

Auch viele Intellektuelle sind besorgt: «Der EU ist ein Orientierungsmythos abhandengekommen», sagt der renommierte deutsche Politikwissenschafter Herfried Münkler in einem Interview mit der «Welt». «Solche Narrative haben die Funktion, dafür zu sorgen, dass nicht jeden Monat nachgerechnet wird, ob sich Europa lohnt. Denn wenn so gedacht wird, dann knirscht und kracht es in allen Ecken.» Ulrich Speck vom Think-tank «Carnegie Europe» in Brüssel schreibt in der «NZZ»: «Die EU ist unfähig, sich zu erklären.» Sie zu erklären und verteidigen, falle viel schwerer, als sie anzugreifen, im Namen des Nationalstaates oder des Antikapitalismus.

Wahrhaftig: Es knirscht und kracht in Europa. Die Währungsunion, welcher 19 Staaten angehören, entpuppt sich je länger, desto eindeutiger als Fehlkonstruktion. Vorerst haben sich die Anhänger des Sparkurses durchgesetzt. Doch Widerspruch bleibt. In Frankreich etwa fordern linksliberale Meinungsmacher wie «Libération»-Publizist Luc le Vaillon den Rauswurf Deutschlands aus der Euro-Zone. Das sei das einzige Rezept, das ökonomische Gleichgewicht in Europa wieder herzustellen.

Abgesehen von solchen Hirngespinsten ist allenthalben klar: Ohne eine gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik drohen bald neue Krisen. Ob sich die Euro-Staaten aber aufraffen können, nationale Kompetenzen im sensiblen Steuerbereich abzugeben, ist fraglich. Zwar wirbt Frankreichs Präsident François Hollande für eine gemeinsame Wirtschaftsregierung. Und auch Wolfgang Schäuble könnte sich einen europäischen Finanzminister durchaus vorstellen, wie er diese Woche dem «Spiegel» sagte. Ob der schwäbische Christdemokrat und der Sozialist aus der französischen Provinz jedoch dasselbe unter mehr Europa verstehen, muss bezweifelt werden.

Ökonomen prophezeien: Es ist nicht die Frage, ob, sondern nur noch wann die nächste Eurokrise die Union erschüttern wird. Vieles hängt von der politischen Entwicklung in dem von Massenarbeitslosigkeit und Armut traktierten Südeuropa ab. Solange in Rom, Madrid und Lissabon Regierungen den Ton angeben, die auf Geheiss des Nordens Reformen vorantreiben und sparsam sind, dürfte die Lage unter Kontrolle bleiben. Anders aber sieht es aus, wenn es oppositionelle Kräfte an die Macht spült, die ähnlich wie der griechische Premier Alexis Tsipras das «Diktat» der reichen Europäer infrage stellen.

Was macht London?

Eine zweite Grossbaustelle ist der Umgang mit den Flüchtlingen. Die Massenflucht aus dem Nahen Osten und aus Afrika – eine Folge von Armut, Krieg, Unfähigkeit einheimischer Eliten und Einmischung westlicher Kräfte – hält wohl noch lange an. Mehrere nord- und vor allem osteuropäische Staaten weigern sich, die Flüchtlinge als gemeinsames Problem zu begreifen. Entsprechend gering ist die Solidarität mit den Frontstaaten Italien und Griechenland. Einfache Lösungen gibt es nicht. Von rechts werden Ressentiments und Hass geschürt, um politisches Kapital zu schlagen. Ob die EU in der Lage ist, die Gemüter zu beruhigen und pragmatische Lösungen zu finden, wird sich zeigen. Klar ist: Die Armutsmigration wird auf Jahre hinaus ein zentrales Thema bleiben und manche nationale Wahl in der Zwischenzeit entscheidend beeinflussen.

Die dritte Baustelle ist der drohende Austritt Grossbritanniens. 2016, spätestens 2017 will Premierminister David Cameron seine Landsleute darüber abstimmen lassen. Ohne die Briten würde die EU weltpolitisch deutlich an Gewicht verlieren. Es wäre ein herber Rückschlag für den Integrationsprozess – mit unabsehbaren Folgen. Die Frage, wie der «Brexit» verhindert werden kann, dürfte nach den Sommerferien zu einem dominierenden Thema in Brüssel werden.

Die EU funktioniert

Diese Krisen sind im kollektiven Bewusstsein omnipräsent. Dabei geht es auch anders. «Die EU funktioniert im Alltag problemlos, viele grosse und kleine Rädchen greifen permanent ineinander», schreibt Politforscher Ulrich Speck. So hat etwa die gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik (GASP) durchaus Konturen erhalten. Gegenüber Putins Machtpolitik in der Ostukraine reagierte die EU geschlossen. Deutschland und Frankreich bemühen sich gemeinsam um eine Entschärfung der Situation.

Weniger rosig sieht es im militärischen Bereich aus. Noch immer ist Europa von den USA abhängig. Deutschland will nicht mehr, Frankreich und Grossbritannien sowie viele kleinere Staaten können angesichts leerer Kassen nicht mehr in ihre Streitkräfte investieren. Gemeinsame Planungsstäbe haben Seltenheitswert, eine europäische Armee existiert nur in den Köpfen einzelner Vordenker.

Dass die EU zu einer kohärenten Aussenpolitik fähig wäre, beweist sie auch gegenüber der Schweiz. Seit Jahren beharrt Brüssel darauf, zuerst die institutionellen Fragen zu klären, ehe es neue Marktzutrittsabkommen gibt. Und auch punkto Personenfreizügigkeit erzählt Brüssel seit dem 9. Februar 2014 stets dasselbe, sehr zum Verdruss der hiesigen Nationalisten.

Wie weiter? Ein Patentrezept hat niemand. Entscheidend ist die Entwicklung in grossen Mitgliedstaaten. Kommt in Frankreich bei den Wahlen 2017 der EU-feindliche Front national von Marine Le Pen an die Macht, wird es ungemütlich auf dem Kontinent. Und auch in Italien stehen mit Beppe Grillos Movimento 5 Stelle sowie der offen rassistischen Lega Nord Kräfte bereit, die dem europäischen Projekt, wenn nicht den Todesstoss versetzen, dann zumindest doch grossen Schaden zufügen könnten.

Politikwissenschafter Münkler: «Wir sind in einer schwierigen Situation und ich glaube, dass sich in den nächsten zwei, drei Jahren entscheiden wird, ob die EU eine Zukunft hat.» Münkler plädiert für eine Kern-EU unter deutscher und französischer Führung. Ansonsten drifteten Paris und Berlin auseinander, was gleichbedeutend wäre mit dem Zerfall der EU.

Dass die EU nicht perfekt ist, ist klar. Was an ihre Stelle treten soll, um die so oder so unabdingbare Zusammenarbeit der europäischen Nationen zu regeln, weiss niemand. Offensichtlich ist, dass Europa ohne eine wie auch immer geartete Union weltpolitisch massiv an Einfluss verlieren dürfte. Ein zersplittertes Europa dürfte Mühe bekunden, sich im Konzert der Grossmächte China, USA, Russland und auch Brasilien überhaupt noch Gehör zu verschaffen.