An Schulbildung ist im Krieg kaum mehr zu denken. Millionen syrische Kinder gehen diesbezüglich leer aus. Dabei müssen die Hilfswerke bereits das Essen rationieren.
Pierre Simonitsch
Eine «Krise von biblischen Ausmassen» nannte der frühere britische Premierminister Gordon Brown diese Woche das Drama der jugendlichen Syrien-Flüchtlinge. Brown bereist gerade die Region als Sonderbeauftragter der Vereinten Nationen für globale Bildung. Laut seinen Angaben sind die Hälfte der ins Ausland geflüchteten vier Millionen Syrer schulpflichtige Kinder.
«Die traditionelle Schulbildung ist durch das Netz gefallen; die gesamte humanitäre Hilfe fliesst in Nahrung und Unterkünfte für die Flüchtlinge», sagte Brown. Aber auch in Syrien selber gehen wegen des Kriegs immer weniger Kinder zur Schule. Peter Salama, Regionaldirektor des UNO-Kinderhilfswerks (Unicef) für den Nahen Osten und Nordafrika, schätzte auf einer Pressekonferenz letzten Freitag die Zahl der von jeglicher Schulbildung ausgeschlossenen Kinder in Syrien auf drei Millionen.
«Das Land verliert eine ganze Generation», warnte Salama. Syrien befinde sich auf dem Weg zu einem «gescheiterten Staat». Auch tauchen längst ausgemerzt geglaubte Krankheiten wie Kinderlähmung plötzlich wieder auf. Unicef und die Weltgesundheitsorganisation führen gemeinsam Impfkampagnen durch, die aber nur begrenzt wirken, solange die Ursachen der Ausbreitung des Poliovirus weiter bestehen.
Als besonders schändlich verurteilte Salama, dass die Kriegsparteien die Trinkwasserzufuhr versperrten. So haben die Regierungstruppen in der Millionenstadt Aleppo den im Zentrum eingeschlossenen Regimegegnern mehrmals den Wasserhahn zugedreht. Internationale Hilfswerke müssen immer wieder versuchen, mit Tanklastern durch die Frontlinien zu gelangen.
Die Angst vor einer aussichtslosen Zukunft treibt Jugendliche und Familien mit Kindern zur Flucht nach Westen. Dabei zielt das oft gehörte Argument, wonach die in die Türkei, den Libanon oder nach Jordanien geflohenen Syrer ja bereits sicheren Boden erreicht hätten und dort bleiben sollten, an der Realität vorbei. Die meisten Flüchtlinge würden gerne in ihre Heimstätten zurückkehren. Voraussetzung dafür wären das Ende des Kriegs und der rasche Wiederaufbau der Städte. Alle Signale deuten aber auf eine Ausweitung der Kämpfe.
Man darf den massgeblichen Regierungen zu Recht vier Jahre Untätigkeit vorwerfen. Weder ist eine Verhandlungslösung für den Syrien-Konflikt in Sicht, noch will jemand Verantwortung für das Los der Flüchtlinge übernehmen. Die Zustände in den Flüchtlingslagern in Jordanien sind nach den Berichten der Hilfswerke katastrophal. Derzeit müssen 625 000 Menschen in einer Wüstengegend in Zelten leben. In der Türkei und im Libanon werden die dort gestrandeten drei Millionen Syrien-Flüchtlinge zwar nicht in Zeltlagern zusammengepfercht hausen, aber mehrheitlich in prekären Unterkünften nahe der Grenze. Jeder möchte die ungebetenen Gäste so rasch wie möglich wieder loswerden.
Das Flüchtlingshochkommissariat der UNO (UNHCR), das Welternährungsprogramm (WFP) und Unicef müssen aus Geldmangel ständig ihre finanzielle Unterstützung und sogar die Essensrationen kürzen. Das WFP ernährt jetzt nurmehr die bedürftigsten Flüchtlingsfamilien in Jordanien. In Bargeld verfügt das WFP über einen halben Dollar pro Kopf und Tag. Von den bis Jahresende benötigten rund 4,5 Milliarden Dollar hat die UNO von den Hilfsorganisationen bisher 1,8 Milliarden erhalten. Die Schweiz steuerte 17 Millionen bei.
Neben der UNO sind private Hilfswerke und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) in und um Syrien tätig. Das IKRK wird zu einem guten Teil von der Schweiz finanziert (2015: 80 Millionen von total 1,76 Milliarden) und ist als unparteiische Institution vorwiegend in den Kampfgebieten im Einsatz. Um mit Medikamenten, Ärzteteams und Nahrungsmitteln zur direkt vom Krieg betroffenen Bevölkerung zu gelangen, ist das IKRK von der Zusammenarbeit mit dem Syrischen Roten Halbmond und von der Bewilligung der Behörden abhängig. Der Zugang zu den Kriegsopfern ist ein grosses Problem. Derzeit verfügen das IKRK und seine lokalen Partner in Syrien über neun mobile Kliniken.
Nach Angaben der UNO stammt etwa die Hälfte der aus Nordafrika übers Mittelmeer nach Europa flüchtenden Menschen aus Syrien. Der Anteil der Syrer an dem Tross, der auf der Balkan-Route westwärts trampt, beträgt 70 Prozent. Es waren ganz klar der Bürgerkrieg und die schlechte Behandlung der Ankömmlinge in den Erst-Asylländern, die diese Welle ausgelöst haben. Vorher gab es auf dieser Route nur vereinzelt Syrien-Flüchtlinge.
Im Nahen Osten denkt mancher an die Palästina-Flüchtlinge, die nach dem israelisch-arabischen Krieg von 1948/49 ihre Heimat verloren und deren Nachkommen oft noch heute in Lagern leben. Die Mitglieder des Weltsicherheitsrats müssten die Gefahr erkennen, dass sich die Situation zu wiederholen droht, und alles daransetzen, den Krieg in Syrien zu beenden und das Land wieder aufzubauen. Sonst werden die einen zur verlorenen Generation und die anderen zu ewigen Flüchtlingen.