Blinde Gewalt eskaliert in zahlreichen türkischen Städten - Nationalisten stürmen kurdische Einrichtungen. Die Hoffnung auf ein baldiges Ende des Kurdenkonflikts ist verflogen.
Am Dienstagmittag schien die Welt noch in Ordnung zu sein in Kirsehir, einer Kleinstadt in der Mitte der Türkei. Mütter betrachteten die bunten Kinder-Rucksäcke, die von der Rosen-Buchhandlung zum Schulbeginn angeboten wurden. Aus der Imbissbude duftete es nach Fleischbällchen, die Konditorei daneben stellte ihre Kuchen aus. Doch kurz vor Sonnenuntergang brach in Kirsehir, wie in Hunderten Orten der Türkei, das dünne Eis ein, auf dem der Gesellschaftsfrieden gebaut war.
Um 19 Uhr beginnt zeitgleich in allen 81 Provinzen der Türkei die «Nacht des Schreckens». Für diese Uhrzeit hat der Jugendverband der Nationalistenpartei MHP zu landesweiten Protesten gegen die Anschläge der kurdischen Rebellenorganisation PKK aufgerufen.
In Kirsehir beginnen die Proteste mit einem Sturm von etwa 4000 Nationalisten auf das Kreisbüro der Kurdenpartei HDP, die mit der PKK liiert ist. Rasch hat die Menge das Gebäude gestürmt, das Schild mit dem Parteiemblem zertrümmert und eine riesige türkische Fahne aufgehängt. Einen Augenblick hält der Mob inne – dann dreht er sich um und greift die Geschäfte auf der anderen Strassenseite an. Klirrend zerbersten die Scheiben der Rosen-Buchhandlung, dann fliegen Brandsätze in den Laden hinein, in dem der Buchhändler Sait Akilli mit zwei Mitarbeitern und seinem Onkel ausharrt. Von den auflodernden Flammen hinausgezwungen, werden die Männer draussen vom tobenden Mob erwartet, der mit Knüppeln und Hacken auf sie einschlägt. Mit gebrochener Nase und einer Platzwunde am Kopf kann Akilli entkommen, seinem Onkel werden die Rippen gebrochen. Der Mob wendet sich inzwischen den nächsten Geschäften zu und brennt Konditorei und Imbissstube nieder, bevor er sein Treiben zufrieden beendet.
Eine typische türkische Kleinstadt bleibt Kirsehir damit auch weiterhin, denn überall in der Türkei spielen sich in der Nacht solche und ähnliche Szenen ab.
«Wohl dem, der wahrer Türke ist» und «Rache, Rache» skandieren Hunderttausende nationalistische Demonstranten bei Fackelzügen, Protestmärschen und Autokonvois. In mehr als 400 Orten werden die Parteibüros der HDP angegriffen, geplündert oder niedergebrannt – darunter sogar in der Hauptstadt Ankara, wo vier Verkehrspolizisten ungerührt zusehen, wie der Mob den Sitz der drittstärksten Partei anzündet.
Rassistische Angriffe eskalieren schon seit Tagen – seit die PKK am Sonntag und Dienstag mehrere Wagen voller türkischer Polizisten und Soldaten in die Luft gejagt hat. In Istanbul wird ein junger Kurde von türkischen Nationalisten erstochen, weil er vor ihrem Kaffeehaus auf Kurdisch telefonierte.
Es ist noch nicht lange her, da herrschte in der Türkei Hoffnung auf ein Ende des Kurdenkonflikts, doch nun ist davon nichts mehr übrig. Ein Grossteil der Verantwortung dafür sehen viele bei Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, der vor den Parlamentsneuwahlen am 1. November den Druck auf die HDP erhöhen will, um seiner eigenen Partei AKP mehr Wähler zuzutreiben. Erdogan bezeichnet die HDP regelmässig als verlängerten Arm der PKK-Rebellen und regierungsnahe Medien stellen HDP-Chef Selahattin Demirtas als getarnten PKK-Kommandeur hin.
Druck auf die HDP kommt auch von der PKK, die mit dem Neubeginn ihrer Angriffe im Juli die Spirale der Gewalt überhaupt erst in Gang gesetzt hat. Am Morgen nach der Kristallnacht schaltet auch Demirtas einen Gang höher und ruft seine Anhänger zur Gegengewalt auf. Rechtsnationalisten würden ab jetzt ihr blaues Wunder erleben, kündigt er an: «Ihre Mütter werden es bereuen, sie zur Welt gebracht zu haben.»