Kommentar
Ruhe bewahren. Normal weiterleben. Business as usual. Als das Unterhaus am Tag nach dem mörderischen Anschlag von Westminster wieder zusammentrat, war in der Regierungserklärung von Premierministerin Theresa May und den Stellungnahmen der Parlamentarier in Variationen immer wieder vom selben Thema die Rede. «Wir haben keine Angst», behauptete die Regierungschefin. Tausende von Londonern bekräftigten die Botschaft im Gespräch miteinander, auf sozialen Netzwerken, in Fernsehinterviews. Wie in Paris, Brüssel und Berlin demonstrierten auch viele Bewohner der 8,5-Millionen-Einwohner-Stadt durch ganz schlichte Gesten: Terrorismus, gleich welcher Spielart, kann Menschen töten, aber nicht auf Dauer freiheitliche Gesellschaften unterminieren.
Stimmt aber der Satz «Wir haben keine Angst» wirklich? Was bedeutet die Normalität, die Politiker nun von den Bürgern fordern? Es gab am Tag der Mordattacke von Westminster gewiss Tausende von Londonern, die stillschweigend ihren Tagesablauf änderten, Konzert- oder Theaterbesuche absagten, sich stattdessen um die eigene Sicherheit und das Wohlergehen ihrer Familie kümmerten. Haben sie damit aus Angst dem Terrorismus nachgegeben? Andere gingen aus, als sei nichts gewesen, nahmen an Chorproben teil oder spielten Fussball, trafen sich mit Freunden auf ein abendliches Pint im Pub. Sind sie deshalb furchtlose Helden?
In einer Millionenstadt hat Normalität viele Facetten. Die Londoner Attacke ruft uns in Erinnerung, wie kostbar Demokratie und Rechtsstaat sind. Wir verteidigen diese Errungenschaft der Aufklärung jede und jeder auf ihre und seine Weise – durch die Sorge um die Familie, durch das unbekümmerte Feiern im Pub, durch den Fortgang unserer je eigenen Normalität.
Sebastian Borger, London