Eine tödlich ausgegangene Polizeikontrolle hat in der westfranzösischen Stadt Nantes heftige Krawalle ausgelöst. Die Vertreter der betroffenen Wohnsiedlungen glauben nicht, dass es sich um Notwehr handelte – sie sprechen von einem Polizeiversagen.
«Es herrscht Krieg», rief ein Bewohner aus dem Sozialviertel Le Breil bei Nantes in die Fernsehkameras. Die Pariser Medien berichten zwar sehr zurückhaltend über die Vorfälle, um nicht zusätzlich Öl ins Feuer zu giessen. Aber ganz wegzappen können sie auch nicht, was in mittlerweile fünf Banlieue-Zonen der hübschen Küstenstadt abgeht: Nach einer ersten Krawallnacht richteten Gruppen von Jugendlichen auch in der Nacht auf gestern erneut schwere Schäden an.
Ganze Gebäude brannten aus, dazu Dutzende von Autos. Schaufenster und Bushäuschen gingen in die Brüche. Die meist vermummten Krawallmacher warfen Molotowcocktails und Steine auf die in mehreren Kompanien angerückten Bereitschaftspolizisten. 19 Jugendliche wurden in der Nacht verhaftet; deren 11 blieben gestern vorerst in Haft.
Der geradezu eruptive Gewaltausbruch erfolgte in Reaktion auf eine Personenkontrolle. Ein Autofahrer hatte sich am Dienstagabend in Le Breil nicht ausweisen können und wurde angehalten, auf die Wache mitzukommen, da seine Papiere nicht in Ordnung waren. Der 22-jährige Mann, der wegen bandenmässigen Diebstahls in Paris per Haftbefehl gesucht war, setzte darauf zurück, wobei er einen Polizisten leicht am Knie verletzte. Der andere zog seine Dienstwaffe und schoss durch das Wagenfenster. Die Kugel durchschlug die Halsschlagader von Aboubakar F.* Er wurde ins Spital eingeliefert, starb dort aber kurz darauf.
Gegen Mitternacht brannten die ersten Autos. Die Vertreter der betroffenen Wohnsiedlungen glauben nicht an die Darstellung der Polizei, dass es sich um Notwehr gehandelt habe. Sie sprechen von einer «Bavure» – ein französischer Begriff für Polizeiversagen. Premierminister Edouard Philippe stellte sich gestern bei einem bereits geplanten Besuch in Nantes hinter die Polizei, kündigte aber «volle Transparenz» bei der Aufklärung durch eine amtliche Untersuchung an. Auch forderte er allgemein zur «Wahrung der Ruhe» auf.
Ganz Frankreich erinnert sich: 2005 waren die bisher grössten Banlieue-Unruhen ausgebrochen, als zwei Kinder auf der Flucht vor der Polizei in einem Elektrizitätswerk durch einen Stromschlag umgekommen waren. Danach entspannte sich die Lage in den Vorstädten zumindest äusserlich. Und auch die Terroranschläge gegen Charlie Hebdo und das Bataclan-Lokal im Jahr 2015 verlagerten die sozialpolitische Banlieue-Debatte eher weg zu Fragen des Dschihadismus.
Jetzt mehren sich die Spannungen an der Banlieue-Front wieder. Anfang 2017 war bei Paris ein junger Afrikaner in einer Polizeikontrolle mit einem Schlagstock malträtiert worden. Die Schilderung des Tathergangs durch den Mann erwies sich in der Folge als teilweise falsch. Die Einsätze der US-Polizei gegen schwarze Bürger fanden aber ein grosses Echo in den französischen Vorstädten. So wie früher die Intifadas die Banlieue-Spannungen angeheizt hatten, wirkt sich nun Donald Trumps Wahl in den USA destabilisierend auf die Pariser Trabantenstädte aus.
Frankreichs Polizisten gelten an sich nicht als rassistisch, auch wenn laut Umfragen über 50 Prozent für die Rechtspopulistin Marine Le Pen stimmen. In der Banlieue geraten die «Flics», wie die Beamten abfällig genannt werden, heute systematisch in die Defensive. 2017 hatte die damals sozialistische Regierung den Begriff der Notwehr bereits ausweiten müssen. Das änderte nicht viel. In Nantes wurden die Insassen zweier Polizeiautos jüngst gefilmt, als sie das Viertel Le Breil fluchtartig verlassen mussten, um nicht mit Steinen beworfen zu werden. Das war noch vor der umstrittenen Polizeikontrolle. Der schiere Autoritätsverlust in diesen Banlieue-Zonen führte aber sicher auch dazu, dass der Polizist gegenüber Aboubakar F. so nervös handelte.
*Name der Redaktion bekannt.