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Der ehemalige Präsident der EU-Kommission über die Flüchtlingskrise in Europa und die Frage, wer in der EU heute das Sagen hat.
Der ehemalige Präsident der Europäischen Kommission, Romano Prodi, ist ein brillanter Denker. Er weiss auch, wie schwierig es ist, in Europa einen gemeinsamen Weg zu finden. Unter seiner Führung kam die grosse Osterweiterung zustande, die dazu führte, dass unter anderem Ungarn EU-Mitglied ist. Prodi hat auch miterlebt, wie Griechenland unter Vorspieglung falscher Tatsachen dem Euro beigetreten ist. Wir haben Prodi telefonisch in seinem Haus in Bologna erreicht.
Romano Prodi wurde am 9. August 1939 im norditalienischen Scandiano geboren. Er war von 1996 bis 1998 und von 2006 bis 2008 italienischer Ministerpräsident. Von September 1999 bis November 2004 war er Präsident der Europäischen Kommission. Der 76-jährige Wirtschaftsprofessor gilt als Warner vor der Spaltung Europas. In seine Amtszeit fielen die Beitrittsverhandlungen und die Aufnahme zehn neuer Staaten in die EU. Prodi wollte schon 2004 dafür im Rahmen des sogenannten Barcelona-Prozesses bilaterale Projekte in der libyschen Wüste aufbauen, um Flüchtlingen dort eine Zukunft zu ermöglichen. Prodi empfing damals den libyschen Diktator Gaddafi in Brüssel. Dafür wurde er harsch kritisiert. (asc)
Romano Prodi: Zunächst muss ich hier ein bisschen ausholen. Es handelt sich um eine globale Krise. Und es ist ein Problem, das nicht so schnell von der Landkarte verschwindet. Die UNO rechnet mit 60 Millionen Menschen, die auf der Flucht sind. Ausserdem möchte ich festhalten, dass es in dieser Krise immer schwieriger wird, zu unterscheiden zwischen Flüchtlingen, die an Leib und Leben gefährdet sind, und Menschen, die aufgrund wirtschaftlicher Not flüchten.
Ich sage noch einmal: Ich bin nicht überrascht von der Flüchtlingswelle an sich. Jedoch überraschte mich die Geschwindigkeit. Das muss man berücksichtigen. Ich erinnere mich an ein Treffen mit dem Premierminister von Nigeria. Er hat mich schon vor Jahren auf die Situation in Afrika hingewiesen. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Geburtsrate so hoch ist, dass sich die Bevölkerung in nur einer Generation verdoppelt.
Natürlich nicht. Was ich sagte, heisst nicht, dass man nicht solidarisch ist und einen Verteilschlüssel sucht. Wir müssen die Lasten in Europa verteilen können. Aber weitere Aktionen sind nötig. Wir müssen den Menschen in Afrika und dem Nahen Osten helfen. Mit Geld auf der einen Seite. Aber auf der anderen Seite auch mit Hoffnung. Denn nur wenn die Menschen in diesen Ländern wirklich auf einen Wandel zum Guten hoffen können, werden sie nicht auswandern.
Es muss einen Weg geben, den ganzen Strom zu regulieren. Aber das wird nicht das Ende von Schengen sein oder die Personenfreizügigkeit gefährden.
Beide Krisen haben nicht nur den Integrationsprozess geschwächt, sondern auch die gemeinsamen europäischen Wurzeln angegriffen. Der wichtigste Unterschied zu meiner Zeit bei der EU-Kommission ist, dass es heute sehr viele Politiker gibt in wichtigen EU-Ländern, denen die Europäische Union weniger wichtig ist.
Nein, nicht nur, aber auch. Mich beunruhigen viel mehr die separatistischen Bewegungen in Grossbritannien. Das von Premierminister David Cameron vorgeschlagene Referendum ist für mich ein Ding der Unmöglichkeit.
Meiner Meinung nach geht das gar nicht. Die Ungarn können sich nicht so verhalten, wie sie es gegenwärtig tun. Es ist absolut unmöglich, eine Mauer um Europa zu bauen. Es ist, als ob die Italiener alle Migranten wieder ins Meer werfen. Wir können das doch auch nicht tun.
Das Ungarn von heute kann man nicht vergleichen mit dem Ungarn von damals. Ich bin immer noch stolz darauf, was wir erreicht haben in Bezug auf die Erweiterung der EU.
Schauen Sie nur die Situation an in der Ukraine. Vergleichen Sie das dann mit den osteuropäischen Mitgliedsländern der EU, Polen, Slowakei oder Estland. Die Menschen leben in Frieden und in einer Demokratie. Ich bin davon überzeugt, dass diese Länder heute die gleichen Probleme wie die Ukraine hätten, wenn sie nicht in der EU wären.
Ich bin ein rational denkender Typ. Ich glaube nicht, dass ein Land wirklich Selbstmord begehen möchte. Die EU zu verlassen, wäre jedoch ein Selbstmord. Ungarn muss den Weg zurückfinden. Da gibt es keine Alternativen.
Ich glaube nicht, dass es einen Kollaps gibt. Der Integrationsprozess ist gestoppt worden. Und europäische Staatschefs haben ihre Visionen von einem geeinten Europa komplett geändert. Zum Glück hat zumindest die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre Rolle neu definiert. Sie ist jedoch alleine. Und Deutschland kann nicht das einzige Land sein, das Europa vorwärtsbringt. Das Gleichgewicht innerhalb Europas ist entscheidend verändert worden.
Nicht nur. Schauen Sie Frankreich an oder Grossbritannien: Diese Länder spielten eine sehr wichtige Rolle in den vergangenen Jahrzehnten bei allen Diskussionen innerhalb Europas. Diese Rolle spielen sie jetzt nicht mehr. Es ist wie in einer Fussballmannschaft. Wenn einer der Spieler nicht mehr spielen möchte, dann ist das ganze Team geschwächt. Es gibt derzeit viele Länder in Europa, in denen nationalistische Parteien ihre Regierungen unter Druck setzen. Das gefährdet die Funktion von europäischen Organisationen. Ich erinnere mich noch genau, wie wichtig es war, dass Länder wie Frankreich oder Grossbritannien bei Entscheidungen mitgerungen haben. Heute ist das Gegenteil der Fall.
Sie hat ein Zeichen gesetzt. Sie spielt gleichwohl eine wichtige Rolle. Europa muss eine grundsätzlich neue Politik gegenüber den Flüchtlingen definieren. Deutschland kann die Last nicht alleine tragen.
Man darf nicht vergessen, dass die Politiker in Griechenland, Spanien oder Portugal – also den Ländern, denen es wirklich schlecht ging und die gerettet werden mussten – eine Wahl hatten: ihre Schulden reduzieren oder nicht. Wer sparen muss, der muss eine höhere Arbeitslosigkeit in Kauf nehmen. Das ist nicht einfach. Ich habe das in Italien als Regierungschef zweimal gemacht. Die Politiker in Europa sind von Angst geleitet. Das hat man in der Euro-Krise gesehen.
Ich glaube, das ist nicht realistisch. Schauen Sie, wenn der Euro verschwindet, haben wir als Wirtschafts-raum keine Chance gegen die USA oder auch gegen China. Ich erzähle meinen Studenten immer die Geschichte vom Untergang Italiens als Seefahrer-Nation. Wir hatten einfach nicht die starken Schiffe damals vor ein paar hundert Jahren im Vergleich zu den Spaniern oder den Briten. Heute stehen wir vor ähnlichen Problemen. Die Schiffe von heute heissen Google, Amazon oder Alibaba. Die sind mächtig, und sie sind in den USA oder in China angesiedelt. Europa spielt hier schon heute eine weniger starke Rolle.
Moment. Ich war derjenige, der nicht nur die gemeinsame Währung wollte, sondern auf eine Budgetkontrolle pochte, und ich sagte immer, dass eine Art Fiskalunion nötig wäre. Ich wurde jedoch von den Deutschen und Franzosen überstimmt. Sie wollten diese Budgetkontrolle nicht einführen. Der damalige deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl sagte mir einmal: Als Italiener müsse ich doch wissen, dass Rom nicht in einem Tag gebaut wurde. Was er meinte, war, dass man das System nicht auf einmal aufbauen solle, sondern nur Schritt für Schritt. Wir sehen ja, wie sich das entwickelt hat.
Ich glaube nicht. Aber sie sind moralisch verpflichtet, die Regeln einzuhalten.