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Unter den potenziellen islamistischen Terroristen sind immer «Untypische» – Frauen und Minderjährige.
«Ein netter Junge, sehr sympathisch, sehr dienstbereit»: So schildern Nachbarn einen 15-jährigen Mittelschüler, der diese Woche verhaftet wurde, weil er mit einem Messer «einen Haufen Kouffar» (Ungläubige) umbringen wollte. Der Teenager wohnte nicht in einer heruntergekommenen Banlieue-Siedlung, sondern mit seiner Mutter im teuren Paris. Er brachte stets gute Noten nach Hause und trug am liebsten Shorts.
Der Zufall will es, dass die Polizei diese Woche zwei weitere Minderjährige verhaftete, die unabhängig davon weit gediehene Attentatspläne verfolgten. Einer stammte aus einer bürgerlichen Konvertitenfamilie; ein anderer, ebenfalls 15-jährig, hatte bereits ein bewusst langes und scharfes Messer gekauft.
Zwei der drei waren dem Geheimdienst bekannt, weil sie auf Internet mit Dschihad-Sprüchen aufgefallen waren. Dann standen sie via die Handyapplikation Telegram in Kontakt mit Rachid Kassim, einem 29-jährigen Franzosen, der in Syrien für die Terrormiliz IS arbeitet und dort schon mehrere Anschläge in Frankreich fernzusteuern versuchte. Er gilt auch als Drahtzieher des jüngsten Attentatsversuchs bei der Pariser Kathedrale Notre-Dame, wo drei Frauen Gasflaschen in Brand stecken wollten.
Auffällig an diesen Fällen ist nicht nur, dass die Urheber weiblich oder minderjährig sind. Sie führten ein unauffälliges Leben, teilweise auch fern jeder Polizeiüberwachung, und gerieten fast über Nacht auf den radikalreligiösen «Trip». Mit einem Mal kleideten sie sich in Dschellabahs oder Nikabs; und bald darauf wollten sie «möglichst viele Leute umbringen», wie einer der 15-Jährigen in der Einvernahme sagte, oder «Frankreich terrorisieren», wie die 19-jährige Ines M. zu Protokoll gab.
Der Sicherheitsexperte Alain Bauer nennt sie alle «Lumpenterroristen» – Amateure, die mit Alltags- oder umfunktionierten Waffen wie Messern oder Lastwagen (wie in Nizza) operieren und deshalb buchstäblich wie ein Blitz aus heiterem Himmel zuschlagen. Auf die Spur kommen ihnen die Antiterrordienste meist nur, wenn sie von französischen Dschihadisten in Syrien angeheuert werden und Anleitungen über Handyprogramme erhalten, die für einmal unverschlüsselt sind. «Die Verjüngung und Feminisierung ist eher neu», meint der Soziologe Michel Fize, Autor eines viel beachteten Buches über die Radikalisierung französischer Jugendlicher. «Früher fand die Anwerbung in Moscheen oder Gefängnissen statt. Das wirkt heute altmodisch, mit Internetdiensten wie Telegram verglichen.»
Noch ungemütlicher wird der Befund, weil es sich keineswegs um Einzelfälle handelt. Premierminister Manuel Valls erklärte, dass seine Dienste «alle paar Tage» Anschläge vereitelten. 300 Leute seien in Frankreich wegen Terrorplänen in Haft, und ungefähr 15 000 Personen würden überwacht, weil sie in einem «Radikalisierungsprozess» steckten. «Ich bin mir der Bedeutung dieser Zahlen bewusst», fügte Valls lakonisch an.
Weniger nüchtern ist die politische Debatte vor den Präsidentschaftswahlen im Frühling 2017. Der konservative Oppositionschef Nicolas Sarkozy erklärte diese Woche: «Der Feind ist überall und nirgends, er versteckt sich in der Menge.» Dieses Bedrohungsgefühl teilen viele Franzosen. Lösungen hat Sarkozy indes kaum anzubieten.
Die Linksregierung versucht es mit «Entradikalisierung». Ein «Zentrum für Vorbeugung und Eingliederung in die Bürgerschaft» soll im Loiretal eröffnet werden. Die 2900 Einwohner von Beaumont-en-Véron sind allerdings vehement dagegen, auch wenn es sich nur um harmlosere, weil «umkehrbare» Radikalisierte handeln soll. Sie sollen in einem halb offenen Gebäude zehn Monate lang in die französische Gesellschaft zurückgeführt werden. Das Tagesprogramm wird so beschrieben: «6.45 Uhr Tagwache, einmal pro Woche Fahnengruss, Sport, Kurse in Geschichte, Religion, Islam oder Komplotttheorien.»
Das Pilotprojekt bietet fürs Erste nur dreissig Plätze – nicht gerade viel bei 15 000 Gefährdern. Das Experiment soll aber, wenn erfolgreich, rasch auf ganz Frankreich ausgedehnt werden. Der Soziologe Fize meint, am wichtigsten sei es, soziale Bindung, Schulerfolg und Zukunftsperspektiven zu vermitteln. «Man muss diesen Jugendlichen die Hand reichen. Es sind keine Barbaren. Wenn es uns gelingt, Ihnen Hoffnung und einen Platz in der Gesellschaft zu geben, lässt sich ihr Abdriften vermeiden.»