Wie sich Rakka von der IS-Besetzung erholt

Zerstörte Städte, verlassene Dörfer und verdorrte Felder: Der Osten Syriens gleicht einer Mondlandschaft, die Menschen leben in Trümmern. Doch die Region liegt im Fadenkreuz der Gross- und Regionalmächte.

Cedric Rehman, Rakka
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Eine Stadt in Trümmern: Eine Strasse in Rakka wird von Truppen der «syrisch demokratischen Front» bewacht. Bild: Sebastian Backhaus/Getty (Rakka, 24. Februar 2018)

Eine Stadt in Trümmern: Eine Strasse in Rakka wird von Truppen der «syrisch demokratischen Front» bewacht. Bild: Sebastian Backhaus/Getty (Rakka, 24. Februar 2018)

Mohammed al Fahad verkauft Fruchtsäfte an dem Platz im Zentrum von Rakka, wo der IS noch bis vergangenen Oktober die Köpfe seiner Opfer auf Zaunlatten aufgespiesst hat. «Sie haben uns gezwungen, alles mit anzusehen, die Folter, die Hinrichtungen», sagt der Mann aus der ehemaligen IS-Hauptstadt in Syrien. Der Vater von zwei Kindern bringt kaum Einkommen nach Hause. Kaum jemand macht Geschäft in der Trümmerstadt. «Vor dem Krieg war ich Ingenieur», sagt al Fahad. Er erscheint abwesend, als er erzählt, wie es war in seiner Stadt, die, so sagt er, der Teufel in Besitz genommen hat. Als hätte sich ein Teil von ihm während all der Gräuel auf und davon gemacht in jene Zeiten, die nun vorbei sind.

Über die Verwaltung der Trümmer Rakkas unter der Ägide der kurdisch- arabischen «Syrisch Demokratischen Front» (SDF) könne er nicht klagen. Was soll sie angesichts der Verwüstung auch mehr ausrichten, als das nackte Überleben zu sichern. Vielleicht übernehme auch das Assad-Regime die Stadt wieder, meint er. Solange er niemals wieder mit ansehen müsse, wie Schwerter Hälse spalten, danke er Gott. «Mein Kopf war immer auf Reisen, als das alles passiert ist. Ich war ganz woanders», sagt er. Auch jetzt, so scheint es, ist er noch nicht wirklich anwesend in seiner zerstörten Welt.

Rakka, Syrien

Die Stadt, die vor dem Krieg etwa 200'000 Einwohner hatte, wirkt nun in Teilen wie planiert. Ebenen aus Staub und Betonkrümeln erstrecken sich über weite Flächen. Gewaltige Krater klaffen in ihnen, die von noch mächtigeren Detonationen zeugen. Anderswo türmen sich Schutt und Metallteile zu Bergen in Haushöhe auf. Dazwischen gibt es Zonen mit halb eingestürzten Bauten. Einwohner tragen in den halb oder ganz eingestürzten Gebäuden Trümmer mit Schaufeln ab. Sie hämmern und sägen, andere steuern Bulldozer, um Schutt von den Strassen in die Bombenkrater zu schieben. Die Männer müssen Minen oder Sprengfallen aus dem Weg gehen. Sie finden nach Monaten immer noch Leichen. Es sind die namenlosen Toten der alliierten Luftangriffe. Sie enden wie der Schutt in Gruben. Der Verwesungsprozess verzögere sich, wenn Tote fast ohne Luftzufuhr begraben sind, erklärt ein Helfer der sogenannten «Emergency Units», der Noteinsatzteams der neuen Zivilverwaltung am Strassenrand. Der Mann wischt sich den Schweiss von der Stirn und zündet sich eine Zigarette an. «Jeden Tag, wenn wir graben, fängt es irgendwo fürchterlich zu stinken an», sagt der Mann. «Das ist, wie wenn ein Sack fauler Melonen angestochen wird», meint er und raucht weiter.

Internationale Hilfe bleibt aus

150'000 Menschen sollen sich laut Angaben der neuen Stadtverwaltung von Rakka zumindest tagsüber in den Ruinen der Stadt aufhalten, um ihre Geschäfte wiederzueröffnen. Die meisten kehren nachts in die Vororte oder Dörfer in der Umgebung zurück. Rakka war vor dem Krieg keine arme Stadt. Viele Bewohner haben ein Landhaus, das «insch’allah» («so Gott will») die Kämpfe und Bombardements der Anti-IS-Koalition überlebt hat. Wer weniger Glück hatte, muss in Camps unter Zeltplanen leben. Die Einwohner kommen auf Eselsrücken in ihre zerstörte Stadt, um etwas zu verdienen. Viele eröffnen in den Ruinen Läden, hoffen, dass andere, die genauso wenig haben wie sie, etwas kaufen. Andere bauen als Angestellte der neuen Zivilverwaltung die Stadt wieder auf. Doch es fehlt an allem: Werkzeug, Maschinen und Lohn für die harte und lebensgefährliche Arbeit. Nirgends sind die Jeeps mit den Logos der internationalen Hilfsorganisationen zu sehen. Die halbe Welt hat diese Stadt bombardiert. Jetzt scheint sie sich selbst überlassen.

Wer Ostsyrien dominiert

Die Syrien Democratic Forces (SDF) oder Demokratischen Kräfte Syriens sind ein im Oktober 2015 gegründeter Zusammenschluss kurdischer und arabischer Milizen in Ostsyrien. Es besteht im Wesentlichen aus den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) und der aus der Freien Syrischen Armee (FSA) hervorgegangenen sunnitisch-arabischen Armee der Revolutionäre sowie Stammesmilizen. Die USA forcierten die Bildung der SDF, um eine lokale Truppe im Kampf gegen den IS zu etablieren.

Im Herbst 2017 nahmen die SDF mit Unterstützung der internationalen Anti-IS-Koalition die syrische IS-Hauptstadt Rakka ein. Grosse Teile Nord- und Ostsyriens gerieten während Offensiven der SDF gegen den IS unter Kontrolle Rojavas, ein autonomes Gebiet, welches von der Partei der Demokratischen Union kontrolliert wird. (crr)

Die neue Bürgermeisterin der Stadt will nicht an ihrem Schreibtisch fotografiert werden. Leila Mustafa bleibt lieber auf dem Sessel gegenüber dem Sofa sitzen. Dort sitzen die Bürger und tragen ihre Klagen über das Fehlen von Strom oder Trinkwasser vor. Einer nach dem anderen wird empfangen. So geht es endlos weiter, Stunde um Stunde. Besser also, Mustafa bleibt, wo sie ist. Im Oktober 2017 kehrte die in Rakka geborene Kurdin mit der SDF in ihre Heimatstadt zurück. Gemeinsam mit einem Araber leitet sie nun die provisorische Verwaltung. Wenn die Stadt wieder lebt, soll sie durch ein gewähltes Gremium ersetzt werden, erklärt die Bürgermeisterin.

Frau, Kurdin und ohne Kopftuch – in einer Stadt, in der Dschihadisten Peitschenhiebe versetzten, wenn Frauen Knöchel entblössten. Es klingt nach einem gewagten Experiment. Doch Mustafa sieht es anders. «Die Menschen haben es so satt», sagt sie. Sie meint den religiösen Fanatismus, das Sektierertum, die Heuchelei. Ihre Stadtverwaltung will blind sein für Religions- oder Volkszugehörigkeit, für das Geschlecht.

Leila Mustafa kann sich nicht so recht erklären, wo die internationale Hilfe bleibt. Die Amerikaner, die in der Stadt Patrouille fahren, liefern manchmal schweres Gerät. Das sei es auch schon, was von aussen komme, sagt sie. Rakka und andere arabisch-sunnitische, vom IS befreite Städte und Dörfer hängen am Tropf der autonomen Kurdenregion Rojava in Nordostsyrien. Dort hat die PYD-Partei das Sagen. Sie ist der Ideologie des PKK-Chefs Abdullah Öcalan verbunden. Die Türkei hat ihre Grenze zu Rojava geschlossen. Im Ergebnis geht es Rojava wirtschaftlich schlecht. Es muss nun auch die dem IS entrissenen Gebiete vor einem humanitären Desaster bewahren. Bürgermeisterin Mustafa gibt zu, dass sie dabei ist, den Wettlauf mit der Zeit zu verlieren. Angesichts all der Leichen in der Stadt drohen Epidemien. «Im Sommer wird es Seuchen geben», sagt sie.

Eine weitere Plage drohe durch die schwierige militärische Lage der SDF. Die kurdischen Verbände zogen sich aus dem Osten Syriens zurück, als die Türkei im Januar den bis dahin zu Rojava gehörenden Kanton Afrin im Nordwesten Syriens angriff. Viele Kämpfer blieben seitdem entlang der Grenze zur Türkei. Südlich und östlich von Rakka steht die SDF zwei Gegnern gegenüber. Die verbleibenden Zellen des IS und schiitische Milizen, die dem Assad-Regime loyal sind und von Russland unterstützt werden. Der IS, wie auch das Assad-Regime, wollen Rakka unter ihre Kontrolle bringen. Im Sommer, der laut der Bürgermeisterin die Seuchen bringt, werde auch der alte Feind zurückkehren. «Wir erwarten, dass sie in den kommenden Monaten wieder hier aktiv werden», sagt die Bürgermeisterin.

Seit 2013 keinen Schulunterricht

Einige Kilometer vom provisorischen Rathaus von Rakka entfernt hat ein weiteres Gebäude den Bomben widerstanden. Der Schuldirektor Mohamed al Ali al Ahmed empfängt mit Stolz in der einzigen Schule Rakkas, die fast noch alle Fenster hat. Auf dem Schulhof präsentiert er ein kleines Wunder: Rund 800 Jungen und Mädchen im Grundschulalter toben in der Pause, wie sie es überall in der Welt tun.

Seit 2013 gab es keinen Schulunterricht in Rakka. Viele Eltern hielten ihre Kinder von den IS-Schulen fern. Doch Kinder lassen sich nicht drei Jahre lang im Haus verstecken. Der IS schnappte sie dann doch. Oder sie sahen in der Stadt die Videoübertragungen von Folter, Hinrichtungen und dem Märtyrertod. Als sie dann vor einigen Monaten zum ersten Mal eine Schule betraten, fehlte den Kindern mehr als das Alphabet. «Einige gingen auf uns los», sagt der Schulleiter. Und sie zeigten ein erstaunliches Detailwissen. «Sie wissen alles über Sprengstoff, über den roten Draht bei einer Bombe oder den blauen», sagt er. Sind derart verrohte Kinderseelen nicht ein Fressen für eine kommende IS-Generation? Der Pädagoge schüttelt den Kopf. «Wir Erwachsenen sind genauso kaputt. Ich hatte Angst vor einem falschen Gedanken, weil ich sicher war, dass sie das bemerken können», sagt er. Nach einem halben Jahr können viele seiner Schüler mehr als nur lesen und schreiben, «sie fangen an, miteinander zu spielen», sagt er. Die Kinder Rakkas bräuchten nun viel von dem, was fehlt: Hefte, Stifte, Lehrer, die ein Gehalt erhalten, und Traumatherapeuten. Der Schuldirektor hofft, dass die Welt, die Rakka zerstört hat, um es vom IS zu befreien, die Kinder der Stadt nicht ihrem Schicksal überlässt.

Gefährliche Lage im Norden

Das weitere Los Rakkas entscheidet sich zirka 150 Kilometer nordwestlich. Der Weg in die Stadt Manbidsch führt auf einem rostigen Kahn über den Euphrat, denn in der gesamten Region ist jede Brücke eingestürzt. Auch hier haben die Kämpfe gewütet zwischen dem IS und der von der Anti-IS-Koalition aus der Luft unterstützten SDF. Die kurdisch-arabische Truppe hat die verlassenen Silos zu ihrer Festung in Manbidsch ausgebaut. Ibrahim Hamdeel vom Militärrat der SDF zwirbelt sich den Bart, als er nach der aktuellen Lage gefragt wird. Er spricht von einem Zweifrontenkrieg. Auf der einen Seite bedrängten die libanesische Hisbollah, die Iraner und Assad-Milizen die Stadt. Noch gefährlicher sei die Lage im Norden, wo sich die SDF den Gewehrläufen der türkischen Armee und ihnen loyaler syrischer Rebellen gegenübersieht. Alles hänge davon ab, ob die Soldaten der USA und Frankreichs in der Stadt blieben und die Türkei von einem Angriff auf Manbidsch abhielten. Was das für den Anti-IS-Kampf in Ostsyrien bedeutet? Hamdeel antwortet nicht direkt. Er sei sicher, dass Donald Trump erkannt habe, wie gefährlich ein Abzug aus Syrien für die USA sei. «Ich bekomme nichts mit von ihrem Rückzug. Im Gegenteil, die Amerikaner verstärken ihre Truppen hier», sagt er. So könnten Teile seiner Truppen von der türkischen Front wieder abziehen, um den IS zu jagen. Es gehe aber nicht nur um Dschihadisten, meint er. «Ich glaube nicht, dass die USA ganz Syrien Russland überlassen wollen, die Türkei wird sich schon fügen», sagt Hamdeel.

Und wie lebt es sich in einer arabischen Stadt, in der Kurden stationiert sind und US-Soldaten patrouillieren? Der 18-jährige Hamoudi al Hadsch hebt den Daumen. Alles sei besser als unter dem IS. «Sie haben uns gezwungen, ständig zu beten. Und wir haben einfach die rituellen Waschungen weggelassen, damit die Gebete nichts gelten», sagt der 18-Jährige. Al Hadsch schüttelt den Kopf, als er auf die Versprechungen des türkischen Präsidenten angesprochen wird, Manbidsch seinen arabischen Einwohnern wiederzugeben. «Soll er doch herkommen und die Leute fragen, von wem sie beschützt werden wollen», sagt er. Wenn er so zufrieden ist mit der Lage in der Stadt, sollte das arabische Manbidsch dann nicht dauerhaft Teil der von den Kurden dominierten «Demokratischen Föderation Nordsyriens» werden? Der 18-Jährige schüttelt wieder den Kopf. «Wir sind Araber, und Manbidsch gehört zu Syrien», sagt er. Es klingt wie eine Warnung an die SDF. Denn der Weg vom Beschützer zum Besatzer kann kurz sein.