219 Millionen Amerikaner sind wahlberechtigt. Jeder US-Bürger ist ab dem 18. Lebensjahr zum Urnengang aufgerufen. Viele von ihnen können sich aber weder für Hillary Clinton noch für Donald Trump erwärmen.
Wenn du beide hasst, wen wählst du dann – oder gehst du gar nicht hin? Diese Frage stellt sich bis zum 8. November vielen Erstwählern in den USA. Vor der dritten Fernsehdebatte zwischen der Demokratin Hillary Clinton und dem Republikaner Donald Trump in der Universität von Las Vegas war auf dem Plakat einer jugendlichen Demonstrantin zu lesen: «Beyoncé for president!» Die Botschaft war kaum ernst gemeint, aber dennoch glasklar: Lieber eine Pop-Sängerin als Trump oder Clinton.
Das Wort vom kleineren Übel ist weit verbreitet unter Amerikas Jungwählern zwischen 18 und 34 Jahren, den sogenannten «Millennials». Sie stellen immerhin 69 Millionen. Das ist fast ein Drittel aller Wahlberechtigten. Zwar liegt Clinton in dieser Altersgruppe laut Umfragen klar vor Trump. Aber sie kommt laut einer Umfrage der Tufts University dennoch nur auf knapp 49 Prozent gegenüber 28 für Trump. Und die 49 Prozent für die Demokratin ergeben sich nicht aus jugendlicher Begeisterung. In der gleichen Umfrage haben 40 Prozent der potenziellen jungen Clinton-Wählerinnen und -Wähler angegeben, nicht wirklich von ihr überzeugt zu sein.
Von diesen «unlikely voters» erklären zudem 37 Prozent, dass sie sich einfach für keinen der beiden Bewerber ums Präsidentenamt entscheiden könnten und deshalb vielleicht gar nicht wählen gehen würden. Sicher sind sich aber die meisten, dass sie nicht für Trump einlegen. «Er ist eine Bedrohung für uns alle, weil er Diskriminierung von Minderheiten akzeptabel machen will», ist ein viel gehörtes Argument unter den Jungwählern, von denen viele Zweitgenerationsmigranten sind.
Doch viele der befragten Erstwähler befassen sich weniger mit Clinton und Trump. Sie wünschen sich den Kandidaten zurück, den sie unterstützt hatten, bevor Hillary Clinton Kandidatin der Demokraten wurde: Bernie Sanders. Während der Vorwahlen der Demokraten war ein wahrer Bernie-Hype entstanden. Bei einigen dieser Vorwahlen stimmten bis zu 80 Prozent der unter 30-Jährigen für Sanders. Insgesamt, so haben Analysen der Vorwahlen beider Parteien ergeben, konnte Sanders mehr Jungwähler für sich begeistern als Clinton und Trump zusammen. «Feel the Bern» wurde zum Schlachtruf unzähliger freiwilliger Wahlhelferinnen und -helfer. Und wie im ersten Wahlkampf Barack Obamas 2008 war die Nutzung von Social Media das Medium der Sanders-Anhänger.
Was hat den politischen Aussenseiter Bernie Sanders so beliebt gemacht, dass noch heute viele junge Amerikaner wünschten, er stünde weiter zur Wahl? Zum einen waren Sanders’ Forderungen auch die ihren: gerechter Mindestlohn, kostenloses Studium, Kritik an den grossen Banken. Zum anderen wurden Sanders und seine Politik im Gegensatz zu jener von Clinton oder gar Trump einfach als authentisch empfunden. Er trat für die Demokraten an, war aber kein Parteimitglied. Sanders finanzierte seine Kampagne ausschliesslich über Kleinspenden. Die für amerikanische Massstäbe fast sozialistische Agenda von Sanders war nicht aktuellem Machtinteresse geschuldet – er verfolgte sie seit Jahrzehnten.
Wer in den USA heute jünger als 35 Jahre ist, der ist in einer Zeit aufgewachsen, in der die Staatsverschuldung ungeahnte Höhen erreichte, die Durchschnittseinkommen aber sanken und die Kosten für eine gute Ausbildung stetig anstiegen. Diese Jugend wurde von der Finanzkrise geprägt und – in den grossen Städten zumindest – viele auch von Protestbewegungen wie «Occupy Wall Street». Sie wissen um die Spaltung der Gesellschaft in wenige Reiche und immer mehr Familien bis in den Mittelstand hinein, die ihren Kindern eine Ausbildung oder ein Studium nicht mehr oder nur noch mit Mühe ermöglichen können. Viele dieser Jugendlichen und jungen Erwachsenen wünschen sich einfach ein Staatsoberhaupt, das neue Tendenzen in der Gesellschaft glaubhaft nicht nur wahr-, sondern auch ernst nimmt. Der Milliardär Trump ist dieser Jemand nicht. Aber die seit drei Jahrzehnten meist in Machtpositionen politisierende Hillary Clinton eben auch nicht. Die «Millennials» fragen sich: Wie sollen diese beiden unsere Lebenswelt und unsere Bedürfnisse verstehen?
Als Hillary Clinton zur Kandidatin der Demokraten gekürt wurde, stellte sich Bernie Sanders hinter sie. Dadurch dürfte Clinton zwar viele zusätzliche Stimmen gewonnen haben. Doch viele der Sanders-Anhänger fühlten sich verraten. Und unter diesen werden viele nicht wählen oder eine der chancenlosen Drittparteien wie etwa die Grünen oder die Libertarian Party, die weniger staatliche Regulierungen fordert. Vor allem deren Kandidat Gary Johnson wirbt offensiv um ehemalige Bernie-Anhänger, auch wenn seine Agenda, ausser mit der Legalisierung von Marihuana, den sozialdemokratischen Positionen Sanders kaum nahekommt.
Doch im Wahlkampf geht es immer mehr nur noch um starke Sprüche, nicht um Programme. Vielen Jungwählern erscheint es egal, wer Präsident wird. Und genau deshalb könnten vielen von ihnen auch die Wahlen egal sein.
Walter Brehm