REFERENDUM: Bei Erdogan liegen die Nerven blank

In der Türkei zeichnet sich ein Stimmungswechsel ab. Eine Niederlage Erdogans scheint plötzlich möglich.

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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan an einer Wahlkampfveranstaltung. (Bild: Keystone)

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan an einer Wahlkampfveranstaltung. (Bild: Keystone)

Mit dem heutigen Beginn der Abstimmung über eine Änderung der türkischen Verfassung in Europa hat der Countdown über die Zukunft der türkischen Demokratie begonnen. Während in den vergangenen Tagen unter den Auslandstürken das Nein-Lager etwas sichtbarer geworden ist, bleibt in der Türkei selbst der Ausgang des Referendums weiter unklar. Dabei ist ein interessanter Schwenk zu beobachten, der das Dilemma unterstreicht, in dem sich die Kampagne von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan befindet.

Möglich geworden war der Erfolg Erdogans bei der Abstimmung der neuen Verfassungsartikel im Parlament nur dadurch, dass die ultrarechte Partei MHP sich Erdogans AKP angeschlossen hatte. Doch während die MHP-Führung ihre Parlamentsabgeordneten noch mühsam auf Linie bringen konnte, scheint sie daran bei der Parteibasis zu scheitern. Nach den jüngsten Umfragen wird nur ein Drittel der MHP-Wähler für die Verfassungsänderung stimmen. Die AKP versucht deshalb jetzt wieder, kurdische Wähler auf ihre Seite zu ziehen, die sich wegen der Zusammenarbeit mit der MHP abgewandt hatten.

Erdogan-Lager wirbt um Kurden

So durfte am 21. März landesweit Nouruz, das kurdische Neujahrsfest, gefeiert werden. Die Polizei liess sogar zu, dass in Diyarbakir wesentlich mehr Transparente mit dem Konterfei des ehemaligen PKK-Führers Abdullah Öcalan geschwenkt wurden als auf der zuvor heftig kritisierten Demonstration in Frankfurt. Zudem versammelte Ministerpräsident Binali Yildirim in Zusammenarbeit mit dem irakischen Kurdenführer Barsani konservative und religiöse kurdische Führer um sich und versuchte, sie mit Versprechungen für die Zeit nach dem Referendum zu ködern, was wiederum die MHP-Führung erboste.

Zuletzt versuchte Erdogan noch einmal Funken zu schlagen, indem er ankündigte, das Volk im Spätjahr darüber abstimmen zu lassen, ob die Türkei den Beitrittsprozess zur Europäischen Union fortsetzen solle oder nicht. Damit will er seinen Anhängern suggerieren, sie könnten so der EU eine Lektion erteilen.

All diese Manöver zeigen lediglich: Bei Erdogan liegen die Nerven blank. Was lange als undenkbar galt, rückt nun immer mehr in den Bereich des Denkbaren: In der entscheidenden Abstimmung seines Lebens könnte Erdogan verlieren. Als er in einem Interview mit CNN-Türk gefragt wurde, was passiere, sollte das «Nein»-Lager gewinnen, verkniff er sich jede Drohung und behauptete, es werde nichts passieren. In diesem Fall hätte der grosse Führer indes seinen Nimbus verloren.

Jürgen Gottschlich, Istanbul