REFERENDUM: Polen flirtet mit dem EU-Austritt

In Polen mehren sich die Stimmen, die über den Verbleib in der EU abstimmen wollen. Doch der neue Premierminister soll heute zunächst einmal in Brüssel die Wogen glätten.

Paul Flückiger, Warschau
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PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski (Mitte) wacht über die Regierungserklärung von Mateusz Morawiecki. (Bild: Alik Keplicz/AP (Warschau, 12. Dezember 2017))

PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski (Mitte) wacht über die Regierungserklärung von Mateusz Morawiecki. (Bild: Alik Keplicz/AP (Warschau, 12. Dezember 2017))

Paul Flückiger, Warschau

Noch immer reiben sich die Polen die Augen über die jüngste Volte Jaroslaw Kaczynskis. Der mächtige Chef der Regierungspartei hatte Anfang Dezember seine Premierministerin plötzlich gegen den Ex-Banker Mateusz Morawiecki ausgewechselt. «Nur bei einem möglichen Plan, sich mit der EU wieder zu versöhnen, macht das Sinn», sagen viele Warschauer Kommentatoren.

Heute reist Morawiecki zu einem «Treffen der letzten Chance» nach Brüssel zu EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Die Unterredung unter vier Augen soll ein Strafverfahren gemäss Artikel 7 wegen der polnischen Justizreform verhindern. Diese bricht laut Brüssel mit der im EU-Mitgliedsvertrag zugesicherten Gewaltentrennung und Rechtsstaatlichkeit.

Polen als isolierte Zwiebel

Gleichzeitig nehmen in ganz Polen jene Stimmen zu, welche die Anberaumung eines EU-Austrittsreferendums nach dem Vorbild Grossbritanniens fordern. Sie sind vor allem bei der älteren Stammwählerschaft der Kaczynski-Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) zu hören. Doch wächst der Druck zu einem solchen Schritt in der ganzen Partei. Die Parteiführung trägt dies nicht, aber sie hat dazu selbst beigetragen. Nicht zufällig sieht ein Danziger Graffiti-Künstler sein Land etwa als isolierte Zwiebel im Weltall, darüber der Slogan «Pol-Exit». Das politisch inspirierte Wandbild zierte eine ganze Häuserwand unweit der weltberühmten ehemaligen «Lenin-Werft». Dort hatten Arbeiter unter der Führung von Lech Walesa 1980 mit Streiks das Ende des Kommunismus in Polen eingeläutet und damit den Weg des Landes zurück in die Europäische Staatengemeinschaft vorgespurt. Dieser entbehrungsreiche Marsch gipfelte 2004 im EU-Beitritt. Doch dieser wird seit dem 2015 erfolgten Machtwechsel zur rechtspopulistischen Kaczynski-Partei PiS ­immer öfter in Frage gestellt. ­Kaczynski ist mitunter auch zu verdanken, dass Polen mit dem Artikel-7-Strafverfahren ein Präzedenzfall seit Gründung der EU im Jahr 1992 droht. Polen könnte in der Folge sein Stimmrecht innerhalb der EU verlieren. Auch rechnen viele unabhängige Ökonomen mit einem drastischen Einbruch der Auslandsinvestitionen. Dies könnte das bisher robuste Wirtschaftswachstum gefährden und der Regierung einige Mittel für ihre populäre Sozialpolitik entziehen.

Verteidigung der Souveränität

«Das Misstrauen gegenüber der EU wird nun auf nie gekannte Höhen klettern», fürchtet Europa­minister Konrad Szymanski. Die Europäische Kommission habe sich leichtsinnig zu einem riskanten Schritt verleiten lassen. Die Kaczynski-Regierung stellt sich auf den Standpunkt, die polnische Justiz sei nicht Angelegenheit der EU. Zudem setzt sie auf das von Viktor Orban zugesicherte Veto Ungarns. Da eine Verurteilung gemäss Artikel 7 einstimmig fallen muss, drohe Polen damit erst einmal nichts, behauptet die PiS. Kaczynskis Anhänger geben inzwischen vor, die Souveränität Polens gegen die EU zu verteidigen. Dass Polen der EU freiwillig beigetreten ist und massiv von den EU-Strukturhilfen profitiert, stört den gewieften Machtpolitiker Kaczynski wenig.

Ideen wie der «Pol-Exit» würden nun an Bedeutung gewinnen, schätzt Agata Stacho­wiak, eine EU-Fachfrau. «Die bisher fast blinde Liebe der Polen zur EU wird bald bröckeln», sagt sie. Das Artikel-7-Verfahren habe nur das Fass zum Überlaufen gebracht, denn längst sei vielen klar geworden, dass Brüssel mit zweierlei Massen messe. Dabei war es die PiS-Regierung, die zwei Jahre lang einen Dialog mit der EU-Kommission verweigert hatte. Kaczynski interessiert laut PiS-Insidern nur die Innenpolitik. In EU-Belangen soll er zunehmend auf jenen rechten Rand hören, der überzeugt ist, dass die EU bald auseinanderbricht.

Mehr als drei Viertel wollen in EU bleiben

Seit dem Wechsel an der Regierungsspitze erfreut sich die PiS mit über 40 Prozent Zustimmung eines Umfragehochs. Noch beliebter ist aber die EU. Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung sind alleine seit März die Stimmen für einen Verbleib in der EU von 68 auf 77 Prozent gestiegen.

Zahlen wie diese befeuern die Stimmen der Optimisten in Warschau. Der Politologe Aleksander Smolar traut Morawiecki durchaus zu, auf einen Kompromiss mit Brüssel in der Frage der umstrittenen Justizreform hinzuarbeiten. Der weltgewandte, im Unterschied zu Kaczynski des Englischen und Deutschen mächtige Morawiecki könnte sich als Versöhner gegenüber Brüssel erweisen, so Smolar. «Mit Beata Szydlos Abgang ist die rechts­nationale Revolution beendet und die Zeit eines gewissen Pragmatismus angebrochen», glaubt Smolar. Doch: «Kaczynski wird Morawiecki natürlich nur so lange an der Macht dulden, wie er ihm nützlich erscheint», warnt der Politologe. Das heisst: Sobald Kaczynski Polen wieder als isolierte Zwiebel im Weltall sehen will, wird der lächelnde Ex-Banker durch einen EU-skeptischeren Premierminister ersetzt.