Reportage
In diesem berüchtigten Knast landen die Nawalny-Demonstranten – Ex-Häftlinge berichten von schlimmen Zuständen

Stundenlanges Warten in eiskalten Gefangenenbussen, einmal in der Woche duschen, drei Mal am Tag eine Tasse Heisswasser. Nach den Protesten für die Freilassung von Alexej Nawalny sitzen viele Russinnen und Russen ihren Arrest in Abschiebehaft ab. Die Bedingungen in Sacharowo sind menschenunwürdig.

Inna Hartwich aus Sacharowo
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Verhaftet und abgeführt von der russischen Polizei: Tausende Menschen, die für die Freilassung des Kremlkritikers Alexej Nawalny auf die Strasse gingen, finden sich anschliessend im Gefängnis wieder.

Verhaftet und abgeführt von der russischen Polizei: Tausende Menschen, die für die Freilassung des Kremlkritikers Alexej Nawalny auf die Strasse gingen, finden sich anschliessend im Gefängnis wieder.

Dmitri Lovetsky / AP

Die Schnürsenkel hat er irgendwo hinter schweren Türen zurückgelassen. Boris hat in den vergangenen Tagen viele schwere Türen aufgehen sehen und zuklappen hören. Er hat vieles erfahren, «was ich mir nie ausgemalt hätte», wie der 33-Jährige sagt.

Jetzt steht er hier auf einem Parkplatz voller verschneiter Autos, hinter sich den Stacheldraht und seine «beschissene Zeit» im Block A einer Spezialhaftanstalt für fast 1000 Festgenommene nach den Protesten für die Freilassung des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny. Er atmet die frostige Luft ein, atmet aus, seine Brille beschlägt ein wenig. Freiheit. «Fühlt sich unwirklich an.»

Boris' letzter Blick auf die gelbe Hauswand - zum Glück von aussen. Der 33-Jährige hat seine Haftstrafe überstanden.

Boris' letzter Blick auf die gelbe Hauswand - zum Glück von aussen. Der 33-Jährige hat seine Haftstrafe überstanden.

Inna Hartwich

Boris umarmt seine Freundin Galina, umarmt seinen Kumpel Sergej, geht ein paar Schritte. Der Schnee knirscht unter seinen Schuhen, in denen Mullstreifen als Schnürsenkel-Ersatz stecken.

Wahllos und brutal gegen Demonstranten

Zehn Tage war der Programmierer in Haft, weil er an einem Januarnachmittag in Moskau auf die Strasse ging – «für die Idee eines freien und offenen Russland». Wie so viele andere quer durchs Land, die nach der Verhaftung Nawalnys dem Staat zeigen wollten: So geht es nicht. Der Staat liess die Protestierenden auf seine Weise wissen, dass er keinen solchen Unmut duldet. Er schlug zu, wahllos, brutal.

Boris fand sich an einer Mauer in einem Moskauer Hinterhof wieder, neben sich andere junge Männer, hinter sich OMON-Sonderpolizisten. Er spürte Stromschläge eines Elektroschockers, schleppte sich schliesslich in einen Gefangenentransporter. Stunden verbrachte er auf einer Polizeiwache, nur Minuten vor einem Richter, sechs Tage in einer Arrestzelle im Südosten Moskaus. Bis er hierher kam, nach Sacharowo. «Ein politisches KZ», wie manche russische Medien schreiben.

Demonstration Ende Januar in Moskau: Brutal geht die Polizei gegen die Protestierenden vor.

Demonstration Ende Januar in Moskau: Brutal geht die Polizei gegen die Protestierenden vor.

Alexander Zemlianichenko / AP

Sacharowo ist ein Dorf wie so viele andere in Russland. Holzhäuser und Datschen-Villen schmiegen sich an die Trasse gen Südwesten, knapp 60 Kilometer und eineinhalb Autofahrstunden von Moskau entfernt. 70 Menschen sollen in dem Ort wohnen, gezählt wurden sie seit zehn Jahren nicht mehr.

800 Gefangene statt 100: Das System kollabiert

2015 eröffnete am Dorfrand das sogenannte Multifunktionszentrum für Migranten. Hier, im modernen Zweigeschosser, bekommen Ausländer ihre Arbeitsgenehmigungen, können ihre Aufenthaltserlaubnis oder die russische Staatsbürgerschaft beantragen. Weiter im Wald ragt ein Wachturm in die Luft. Stacheldraht umgibt die gelben Gebäude. «Abschiebehaft für Migranten», steht auf einem roten Schild. Russische Bürger haben nur Zutritt zum Gelände, um auf das Ende eines Verfahrens zum Entzug ihrer Staatsbürgerschaft zu warten. Eigentlich.

Das Warten auf die Verwandten kann sich in Sacharowo Stunden hinziehen.

Das Warten auf die Verwandten kann sich in Sacharowo Stunden hinziehen.

Inna Hartwich

Doch dann werden da eines Nachts plötzlich 80 Frauen und Männer herangekarrt, zusammengepfercht in Gefangenentransportern. In der kommenden Nacht sind es nochmals 150, am Tag darauf wieder 150 und später weitere 400. Eine Anstalt, in der sonst rund 100 Menschen, Zentralasiaten meist, monatelang auf ihre Abschiebung warten, wird zu einem Spezialgefängnis für mehr als 800 Protestierende. Das System kollabiert.

Wohin mit den «Politischen»?

Die Polizeiwachen quer durch Moskau sind da bereits längst überfüllt. Allein am Protestabend nach der Gerichtsverhandlung gegen Nawalny am 2. Februar haben Sonderpolizisten in der russischen Hauptstadt mehr als 1000 Demonstranten festgehalten. Die Festgenommenen von den zwei Protestwochenenden zuvor waren da noch nicht wieder in Freiheit.

Wohin mit den vielen «Politischen»? So nennen Polizisten wie Hilfsorganisationen die meist jungen Menschen, die sich gegen die staatliche Willkür einsetzen, für den russischen Staat aber «Marionetten des Westens» sind. Die Begriffe wecken Erinnerungen an die Gulag-Zeit unter Stalin.

Gerade in den ersten Tagen nach den Massenfestnahmen werden die grundlegenden Rechte der Menschen missachtet. Das geht aus Berichten von Menschenrechtsaktivisten hervor, die die Anstalten in den vergangenen Tagen besucht haben. Die Gefangenenbusse stehen stundenlang vor den Revieren, draussen sind es minus 20 Grad, manchmal müssen die Festgenommenen selbst ihren Gefangenentransporter anschieben, weil der Motor nicht mehr anspringt.

In den Haftanstalten gibt es kein Wasser, kein Essen, Berufungsbescheide gehen verloren, man lässt die Frauen und Männer nicht telefonieren, tagelang wissen ihre Familien nicht, wo sie sind. Anwälte haben kaum Zugang zu ihren Klienten. In so manchen Acht-Mann-Zellen sitzen 27 Männer ein, auf den Metallpritschen gibt es keine Matratzen, die Stehtoiletten sind verstopft. Manchmal drehen die Aufseher die Heizung tagsüber auf 30 Grad auf, nachts ist sie ganz aus, es wird eiskalt.

Die Haftanstalt als Inbegriff staatlicher Willkür

Alle stehen unter Stress, kaum einer der Gefangenen war jemals zuvor eingesperrt. Sie rebellieren, sie rotten sich zusammen, schreien bei den kurzen Spaziergängen im Metallkäfig gemeinsam «Putin ist ein Dieb», nehmen sich mit geschmuggelten Smartphones auf, stellen die Bilder ihrer Zellen ins Internet. Die Behörden reagieren mit harschen Durchsuchungen. Gerade Sacharowo wird zum Inbegriff der menschenverachtenden Haltung des Staates seinen Bürgern gegenüber.

Freiwillige organisieren sich in Chats, suchen darin nach den Gefangenen, sie bringen Tee, Wurst, Zahnputzzeug, Shampoos und Wasser vor die Anstalten. Sie verhandeln bis spät in die Nacht mit den Frauen und Männern am Durchgang, dass sie doch bitte die gebrachten Päckchen an die Gefangenen weitergeben sollen, sie kochen Suppe für die wartenden Verwandten in der Kälte.

«Als Gefangener ist man verloren»

«Wir lösen am laufenden Band irgendwelche Probleme», sagt Jewgeni Resnizki von der Freiwilligenorganisation «Peredatschi» (Päckchen). «Als Gefangener ist man verloren». Seit zehn Jahren engagiert sich der bald 36-Jährige politisch, arbeitete im Moskauer «Stab Nawalny» mit, ging auch selbst auf die Strasse. «Zum Glück, ohne festgenommen zu werden.»

Die Wut der Menschen wächst, die Repressionen des Staates werden stärker. Die Behörden drohen den Gefangenen mit Strafverfahren, sie setzen Nawalny-Vertraute unter Hausarrest oder auf die Fahndungsliste. Sie erniedrigen Aktivisten und Journalisten. Im ganzen Land rücken Bezirkspolizisten systematisch zu Protest-Teilnehmern aus. Mittels Gesichtserkennung machen sie sie ausfindig. Auch der Arrest schüchtert ein.

«Ich habe nun zehn Tage gesessen. Zehn Tage meines Lebens – und nichts dadurch erreicht», sagt Boris vor der Haftanstalt in Sacharowo. «Wir müssen den Protest wohl anders denken. Sich verprügeln und festnehmen zu lassen, bringt uns nicht weiter.»