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Ein Tag, zwei Prozesse, zwei Niederlagen: Der russische Oppositionspolitiker nutzt seinen Glaskäfig in einem Moskauer Gericht als politische Bühne und zeigt sich von einer ungewohnten Seite.
«Selig sind, die hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.» Es sind Worte aus der Bergpredigt, Jesus' Grundsatzrede, in der er sagt, was Gott von den Menschen erwartet. Und es sind Worte von Alexej Nawalny im Babuschkino-Bezirksgericht im Moskauer Norden.
Ungewöhnliche Worte aus dem Schlusswort des 44-Jährigen in einem Berufungsverfahren. Kurz danach wird der Richter entschieden haben, was ohnehin längst entschieden war: Nawalny muss seine im Jahr 2014 wegen Betrugs verhängte Freiheitsstrafe definitiv antreten und für zwei Jahre, sechs Monate und zwei Wochen in ein Straflager. Die Monate im Hausarrest, die der Moskauer bereits in dem Fall verbrachte, werden ihm angerechnet.
Erst vor zwei Wochen war entschieden worden, dass seine Bewährungsstrafe in eine reale Haft umgewandelt wird. Nawalny soll die Auflagen verletzt haben, weil er sich, während er in Deutschland in Behandlung war, nicht bei der russischen Strafvollzugsbehörde gemeldet habe. Der Oppositionspolitiker war zuvor – mutmasslich vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB – mit dem verbotenen Nervengift Nowitschok vergiftet worden.
«Die ganze Welt wusste, wo ich bin», wiederholt Nawalny am Samstag vor dem Richter. Dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die sofortige Freilassung Nawalnys gefordert hatte, spielt bei der Verhandlung keine Rolle. Strassburg sieht die Entscheidung als bindend an, Moskau aber weist diese als «Einmischung in innere Angelegenheiten» vehement zurück.
Nawalny nutzt den Glaskäfig im Gericht, in dem in Russland Angeklagte der Verhandlung folgen, als politische Bühne. Und er gibt sich fromm. Damit macht er es dem Staat noch schwerer, ihn, der in seinen Positionen ohnehin oft nicht eindeutig zu verorten ist, als amoralischen Verräter darzustellen.
Nawalny zitiert aus der Bibel, sagt, am Ende werde sich die Wahrheit durchsetzen und der Durst nach Gerechtigkeit gelöscht sein, sagt, Russland werde nicht nur frei, sondern auch glücklich sein. Er gibt sich pathetisch – und greift dann doch auf Passagen aus «Harry Potter» und seinem Lieblingszeichentrickfilm «Rick and Morty» zurück.
Seine ernste wie rhetorisch starke Rede hat keinen Einfluss auf das Gericht. Das dürfte wohl auch er selbst wissen. Doch sie hat Auswirkungen auf seine Anhänger, die der Staat ebenfalls drangsaliert. Er fühle sich nicht einsam, sagt Nawalny, auch wenn der Staat einschüchtere und die Menschen zur Einsamkeit zwinge.
Kaum ist das eine Schlusswort gesprochen, folgt bald auch schon ein zweites – und wenige Stunden später das Urteil: Nawalny soll wegen Verleumdung eines Weltkriegsveterans 850'000 Rubel Strafe zahlen (umgerechnet gut 10'000 Franken).
Beide Prozesse haben wenig miteinander zu tun, und doch sollen sie Nawalnys «verbrecherische Tätigkeit» zeigen, wie die Staatsanwältin – in beiden Fällen dieselbe – bereits an einem Prozesstag zuvor sagte. In einem Tweet hatte Nawalny ein Werbevideo, in dem auch der Veteran Ignat Artjomenko für die Putin'sche Verfassungsreform warb, gehässig kommentiert und die darin Mitmachenden als «Verräter» und «Speichellecker» bezeichnet.
Auch dieser Fall ist ein fragwürdiger. Wer der Urheber der Anzeige ist, ist unklar. Das Kalkül dahinter aber offensichtlich: Dabei geht es weniger um den 95-jährigen Artjomenko, sondern vielmehr um die quasisakrale Figur des Veteranen. Der Ruf Nawalnys als moralisch verdorbenen Geschichtsvergessenen, der sich an den Ahnen vergangen habe, soll gefestigt werden.
Der Kult um den Sieg über Nazi-Deutschland dient zu grossen Teilen der Legitimierung Putins. Jegliche Kritik daran gilt als Tabubruch im Land. Das Gedenken an den Krieg eint die Nation. Die Lebensumstände von Veteranen sind oft dürftig, der Staat preist die gebrechlichen Frauen und Männer meist im Vorfeld des Tags des Sieges am 9. Mai. Auf diese Scheinheiligkeit weist Nawalny in seinem Schlusswort hin. Die Richterin übergeht das. Wie all die Gerichte der vergangenen Wochen die Positionen Nawalnys übergangen haben. Wann er ins Lager «etappiert» wird, wie die Russen sagen, ist unklar.