Russland
Putin macht einen Vergleich mit dem «Dschungelbuch» und droht dem Westen: «Die roten Linien bestimmen wir selbst»

Während Russlands Präsident Wladimir Putin sich mit einer Rede an sein Volk wendet, setzen sich Tausende Menschen in landesweiten Protesten für den hungerstreikenden Alexej Nawalny ein. Es ist ein ungleicher Kampf.

Inna Hartwich, Moskau
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Wladimir Putin während seiner Rede an die Nation.

Wladimir Putin während seiner Rede an die Nation.

Maxim Shipenkov / EPA

«Einen Arzt für Nawalny», skandieren die Menschen, die entlang der Lenin-Bibliothek in Moskau nur unweit des Kreml laufen. Es ist Abend, die Strassen rundherum füllen sich. Das Team um den inhaftierten und hungerstreikenden russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny hatte landesweit zu Protesten aufgerufen. Der 44-Jährige verlangt seit Wochen, seine Vertrauensärzte zu ihm zu lassen. Nach russischem Gesetz ist es auch sein Recht.

Die Strafvollzugsbehörde lässt dies allerdings nicht zu und teilt mit, Nawalny sei mittlerweile im Gefängniskrankenhaus von Wladimir Putin von vier zivilen Ärzten aus staatlichen Kliniken besucht worden. Mehr sagt sie nicht.

Nawalnys Frau und Mutter protestieren ebenfalls mit

Den Protestierenden von Moskau, wie auch von Sankt Petersburg, Jekaterinburg oder Wladiwostok ist das zu wenig. Zu Zehntausenden gehen sie auf die Strasse, «weil es einfach menschlich ist, sich für jemanden einzusetzen, der langsam stirbt», sagt eine Frau in Moskau. Auch Nawalnys Frau Julia und seine Mutter Ljudmila protestieren in Moskau mit.

Eine Demonstrantin hält ein Plakat, das die Freilassung Nawalnys fordert.

Eine Demonstrantin hält ein Plakat, das die Freilassung Nawalnys fordert.

Alessandra Tarantino / AP

Wie viele Demonstranten es sind, lässt sich nur schwer schätzen, weil sie sich quer durchs Stadtzentrum verteilen. Es sind allerdings weniger als bei den Januar-Protesten nach der Rückkehr und Festnahme Nawalnys. Die Einschüchterungstaktik der Behörden hat gegriffen. Viele haben schlicht Angst vor den Konsequenzen, haben Angst, ihre Jobs, ihre Kinder, ihr Hab und Gut zu verlieren. «Ich fühle mich mies, aber meine Jungs hier zu Hause sind mir wichtiger, ich kann sie nicht allein lassen.» Ähnliche Posts finden sich zuhauf in den sozialen Netzwerken.

Mehr als 400 Festnahmen im ganzen Land

Die Polizei lässt die Demonstranten gewähren, ist aber in einer enormen Präsenz vertreten. Immer wieder führt sie einzelne von ihnen in die Gefangenentransporter ab. Jeder, der protestiert, ist sich der Tatsache einer Festnahme bewusst. Bereits am frühen Abend zählt die Organisation «OWD-Info» mehr als 400 Festgenommene landesweit.

Für die Demonstranten ist dieser Mittwoch auch deshalb ein Tag der Entscheidung, weil Russlands Präsident Wladimir Putin am Mittag seine Rede an die Nation gehalten hat. «Leere Versprechungen, die er seit Jahrzehnten macht», wie eine Demonstrantin in Moskau kommentiert. «Lieber sollte er seine Fehler eingestehen». «Botschaft» nennen die Russen den jährlichen Auftritt vor den beiden Kammern des Parlaments.

Was Putin verschweigt, existiert auch nicht – zumindest nicht für ihn

Die Botschaft seiner 75 Minuten lautete: Das friedfertige, zurückhaltende, unaufdringliche Russland, das mit allen nur freundliche Beziehungen führen wolle, sei umgeben von vielen, die Russland Schwäche einforderten. «Grundlos macht man Russland für alles verantwortlich» klagt Putin und droht:

«Organisatoren jeglicher Provokationen, die die Kerninteressen unserer Sicherheit bedrohen, werden ihre Taten so bereuen, wie sie lange nichts bereut haben. Unsere Antworten werden asymmetrisch, schnell und hart sein.»

Er bescheinigt der russischen Staatsführung «genug Geduld und genug Selbstsicherheit in der Richtigkeit des eigenen Handelns, sollten rote Linien in Bezug auf Russland überschritten werden.» Was rote Linien seien, bestimme Russland selbst. Konkret wird der 68-Jährige nicht. Die Aggressivität in seinen Worten soll das Selbstbewusstsein des Kreml unterstreichen. Den Westen vergleicht Putin mit dem Löwen Shir Khan aus Kiplings «Dschungelbuch», um den seine Handlanger, die Wölfe, herumschlichen und heulten und so den Souverän besänftigten. Eine gehässige Anspielung auf die USA (der Löwe) und Europa (die Wölfe).

Hielt eine aggressive Rede: Wladimir Putin.

Hielt eine aggressive Rede: Wladimir Putin.

Maxim Shipenkov / EPA

Wichtiger als das, was er sagt, ist dabei das, was er nicht sagt. Nach dem Truppenaufmarsch der Russen an der russisch-ukrainischen Grenze erwähnt er die Ukraine mit keinem Wort. Auch Nawalny und die Opposition kommen nicht zur Sprache. Die Probleme, die nicht angesprochen werden, existieren auch nicht, so das Verständnis in der russischen Führung. Oder es gibt noch keine Lösung für sie.

Lieber konzentriert sich Putin auf Innenpolitisches. Mehr als eine Stunde liefert er ein sozialpolitisches Versprechen nach dem nächsten. Im Herbst sind Parlamentswahlen im Land, der Präsident stimmt die Bevölkerung mit finanziellen Zuckerschlecken darauf ein. Für Kinder im Schulalter gibt es Zuschüsse, für Sommerferienlager Rückerstattungen. «Familie, Freundschaft, gegenseitige Unterstützung, Barmherzigkeit und Zusammenhalt machen uns stark», sagt Putin und ignoriert das, was viele im Volk ihm zu sagen haben. Dass sie freie Wahl wollen, ihr Recht auf Meinungsäusserung. Und zunächst einmal «Einen Arzt für Nawalny».