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Die Supreme-Court-Richterin Ruth Bader Ginsburg genoss im linken Amerika bis zu ihrem Tod Kult-Status. Dieser Rummel verdeckt den Blick auf die bahnbrechende Karriere der Juristin, die ein Stück Gleichstellungsgeschichte schrieb.
Elena Kagan schrieb süffigere Urteile. Sonia Sotomayor passte sich besser dem progressiven Zeitgeist an. Aber nur Ruth Bader Ginsburg, zuletzt eine von drei weiblichen «Associate Justices» am Supreme Court in Washington, erlangte während ihrer langen Dienstzeit am höchsten Gericht Amerikas Kult-Status.
«The Notorious RBG», wie sie in Anspielung auf einen längst verstorbenen Rap-Star und ihre Initialen scherzhaft genannt wurde, wuchs während der Amtszeit des republikanischen Präsidenten Donald Trump zu einer Ikone des Widerstandes gegen seine Politik heran – auch weil sich die kleingewachsene Frau (155 Zentimeter), die eine Vorliebe für altmodische Brillen und Spitzenkragen zeigte, von zahlreichen gesundheitlichen Rückschlägen nicht unterkriegen liess und auch im hohen Alter alles daran setzte, keine Sitzung des Gerichtes zu verpassen. So berichtete ihr persönlicher Fitness-Trainer noch vor einigen Monaten darüber, wie die damals 87 Jahre alte Richterin ihren Körper stärke, indem sie Gewichte stemme oder Ausdauertraining betreibe.
Diesen Rummel um die Person Ruth Bader Ginsburg verdeckte zuletzt den Blick auf ihre aussergewöhnliche Karriere als Juristin. Und darauf, dass ihre Nomination für den Supreme Court durch Präsident Bill Clinton anfänglich als Notlösung galt, auch weil Ginsburgs Positionsbezüge in der ideologisch aufgeladenen Debatte um das Recht auf Abtreibungen im Weissen Haus auf Unverständnis stiessen. Ginsburg setzte sich stets für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen ein; sie war aber der Meinung, dass der Supreme Court im Jahr 1972 auf die falsche rechtliche Theorie zurückgegriffen habe, als eine Mehrheit der neun Verfassungsrichter das wegweisende Urteil im Fall «Roe v. Wade» fällte.
Ginsburg, geboren 1933 unter dem Namen Joan Ruth Bader im New Yorker Stadtteil Brooklyn, war in den Fünfzigerjahren eine der wenigen Frauen, die sich an der Elite-Universität Harvard Law School zur Juristin ausbilden liessen. Neun Studentinnen zählte ihr Jahrgang, der gegen 500 Studenten umfasste. Als sie vom Dekan der Fakultät gefragt wurde, warum sie einem Mann den Studienplatz weggenommen habe, sagte die junge Studentin: Sie tue dies, um ihrem Gatten, der ihr ein Jahr voraus sei, besser zu verstehen, damit sie ihm eine «geduldigere und verständnisvollere Ehefrau» sei.
Dabei handelte es sich um eine klassische Notlüge, wie sich kurz darauf zeigte. Als ihr Gatte Marty, den sie 1954 geheiratet hatte, 1957 nämlich an Hodenkrebs erkrankte und sich einer langwierigen, schmerzvollen Behandlung unterziehen musste, übernahm Bader Ginsburg das Zepter im Haushalt. Sie kümmerte sich nicht nur um den erkrankten Gatten und das erste (von zwei) gemeinsamen Kindern, sondern stellte auch sicher, dass die beiden an der Universität nicht den Anschluss verpassten.
Marty schloss Harvard Law School 1958 (mit Bestnoten) ab, und heuerte als Steueranwalt in einer New Yorker Kanzlei an. Seine Frau wiederum, die 1959 an der Columbia Law School ihre Studien als Klassenbeste beendete, benötigte einige Jahre, bis sie die rechte Stelle fand – auch weil die offene Diskriminierung von Frauen damals noch toleriert wurde. Nach Gastspielen an einer schwedischen Universität und einer Dozentenstelle an der Rutgers Law School in New Jersey wechselte sie 1972 an ihre Alma Mater, wo sie zur ersten Vollzeit-Rechtsprofessorin an der Columbia Law School berufen wurde.
Ginsburg war schon damals als Star in ihrem Feld, weil sie nicht nur unterrichtete, sondern auch praktische Erfahrung als Klägerin sammelte. Als Chefin des «Women’s Rights Project» der Bürgerrechtsorganisation ACLU (American Civil Liberties Union) zog sie Gleichstellungsklagen vor den Supreme Court und erzielte wichtige Erfolge. So räumte das höchste Gericht im Jahr 1973 ein, dass es unrechtmässig sei, wenn der Gatte einer Luftwaffen-Pilotin nicht in den Genuss von Zuschüssen komme, die der Gattin eines männlichen Mitglieds der Streitkräfte zustünden.
Und trotz dieser wegweisenden Arbeit galt Ginsburg nie als Revolutionärin – wohl auch, weil sie keine rhetorischen Bomben warf, sondern auf die Kraft ihrer juristischen Argumente setzte. Ihr Gatte, mit dem sie bis zu seinem Tod im Jahr 2010 glücklich verheiratet war, war das pure Gegenteil. Marty machte aus seinem Stolz über die Karriere seiner Frau nie ein Geheimnis. Als sie 1980 von Präsident Jimmy Carter zu einer Berufungsrichterin ernannt wurde, stiess ihre Nomination nicht auf namhaften Widerstand. 1993 wurde sie auf Vorschlag von Präsident Clinton durch den Senat mit 93 zu 3 Stimmen zur Richterin am Supreme Court befördert, dem wichtigsten Gericht in Amerika.
Sie sei halt «weder links noch konservativ», pflegte Ginsburg zu sagen. Dabei handelt es sich nur um die halbe Wahrheit. In ihren 27 Jahren am Supreme Court rückte die Richterin immer stärker nach links – was sie zuletzt zum Sprachrohr des linken Flügels des Gerichts machte. Lange Jahre aber, bis zu seinem Tod im Jahr 2016, pflegte sie eine enge Freundschaft mit Antonin Scalia, dem inoffiziellen Anführer des konservativen Flügels am Verfassungsgericht. Dank dieser Mischung verschaffte sie sich auch im rechten Amerika Respekt.
Ruth Bader Ginsburg ist am Freitag, zu Beginn des jüdischen Neujahrsfests Rosch ha-Schana, in Washington im Alter von 87 Jahren an den Folgen einer Erkrankung mit Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben. Ihr letzter Wunsch, gemäss der Gerichtsreporterin Nina Totenberg: «Mein innigster Wunsch ist es, dass ich nicht ersetzt werde, bis ein neuer Präsident im Amt ist.»