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Schutz des Lebens allem anderen überordnen – oder nicht? Schäuble stösst brisante Debatte an

Der Staat hat die Pflicht, Leben zu schützen. Aber ist diese Pflicht in der Coronakrise allem überzuordnen? Der deutsche Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble meint: Nein. Die Entscheidung über die Öffnung des Landes will er nicht allein den Virologen überlassen.

Christoph Reichmuth aus Berlin
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Hat eine kontroverse Debatte über Abwägung in der Coronakrise angestossen: Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble.

Hat eine kontroverse Debatte über Abwägung in der Coronakrise angestossen: Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble.

Olivier Hoslet / EPA

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, 77, hat in einem Interview mit dem Berliner «Tagesspiegel» eine unbequeme Debatte über den Umgang mit der Corona-Pandemie angestossen. Der ehemalige Innen- und Finanzminister sieht eine Güterabwägung zwischen der Pflicht des Staates, Leben zu retten, und den weitreichenden Folgen, die eine Quasi-Stilllegung des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens durch den Lockdown auf Einzelne und die Gesellschaft haben.

Der eingeschlagene Weg der Bundesregierung sei sicherlich nicht falsch, die Lockerung der Massnahmen wie Kontaktbeschränkungen sei mit Vorsicht zu vollziehen, denn ein zweiter Lockdown wäre verheerend. «Der Weg zurück würde fürchterlich», sagte der Bundestagspräsident, fügte dann aber einen brisanten Satz hinzu: «Aber wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig.»

Grundrechte würden sich gegenseitig beschränken, so Schäuble weiter. «Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schliesst nicht aus, dass wir sterben müssen.» An anderer Stelle in dem Interview meinte Schäuble: «Wir dürfen nicht allein den Virologen die Entscheidungen überlassen, sondern müssen auch die gewaltigen ökonomischen, sozialen, psychologischen und sonstigen Auswirkungen abwägen. Zwei Jahre einfach alles stillzulegen, auch das hätte fürchterliche Folgen.»

Ethiker loben Schäuble für seinen Vorstoss

Schäubles Wort - als Repräsentant des Parlaments zweiter Mann im Staat - hat Gewicht. An der Äusserung des 77-Jährigen gab es kaum Kritik, vielmehr breite Zustimmung, unter anderem vom Ethikrat. «Der Ethikrat und viele andere haben in den vergangenen Wochen darauf hingewiesen, dass dem Schutz des menschlichen Lebens nicht alles untergeordnet werden darf», so der ehemalige Vorsitzende des Ethikrates, Peter Dabrock, im «Handelsblatt».

Auch der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet - wie Schäuble Mitglied der CDU - lobte in der FAZ den Bundestagspräsidenten für seinen Debatten-Beitrag. «Schäuble hat recht», sagte Laschet, der sich seit Wochen für schnellere Lockerungen der Coronamassnahmen ausspricht. Kinder aus bildungsfernen Schichten, auch junge Familien generell mit ihren Belastungen durch die Einschränkungen, dürften nicht aus dem Blick geraten. «Auch die weiteren sozialen Folgen, die ökonomischen Schäden und medizinischen Folgen, etwa durch Einsamkeit von älteren Menschen, Massenarbeitslosigkeit oder durch verschobene Operationen, müssen in den Fokus.»

AfD-Fraktionschef Alexander Gauland lobte Schäuble ebenfalls: «Wenn die Behandlung einer Krankheit beginnt, mehr Schaden anzurichten als die Krankheit selbst, dann muss diese Behandlung beendet werden.» Lediglich die SPD übte - wenn auch leise - Kritik am Bundestagspräsidenten. «Wenn wir jetzt aus einer falsch verstandenen Güterabwägung zwischen Geld und Leben heraus Beschränkungen voreilig lockern, verlieren wir am Ende beides», warnte SPD-Co-Chef Norbert Walter-Borjans.

Der Peak ist nicht gekommen

Schäubles Äusserungen fallen in eine Phase, in der die Anti-Corona-Massnahmen der Regierung immer offener in Frage gestellt und Zweifel an der Rolle der Virologen geäussert wird. Prognosen von Virologen seien in Bezug auf die Zahl der Infizierten und Toten und die Situation in den Krankenhäusern nicht eingetroffen, meinte Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Laschet. «Ich habe zwei, drei Wochen vor Ostern mit Virologen gesprochen. Die haben gesagt: Der Peak kommt», so Laschet. «Er ist nicht gekommen.»

Merkels Chef-Virologe Christian Drosten musste seine Meinung, etwa was die Schliessung der Schulen betrifft, revidieren. Noch im März hielt er diesen Schritt für nicht nötig, wenig später korrigierte er seine Haltung, die Schulen und Kindergärten in Deutschland machten dicht. Doch Virologen und das Robert Koch-Institut (RKI) warnen eindringlich davor, angesichts zuletzt sinkender Ansteckungsraten und der Überkapazität bei Intensivbetten in deutschen Spitälern die Pandemie als überstanden zu betrachten.