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Der 65-jährige Regierungschef hat viele Japaner politisch enttäuscht. Und sein kriegerischer Herzenswunsch, der bleibt vorerst unerfüllt.
Wieder ist es dieser Darm. Sein Zustand habe sich in letzter Zeit derart verschlechtert, dass er einfach nicht mehr weitermachen könne. Wie schon damals 2007, als Shinzo Abe nach einem Jahr im Amt als japanischer Premierminister seinen Hut nehmen musste. Am Freitagmorgen gab der rechtskonservative Regierungschef zum zweiten Mal seinen Rücktritt bekannt. Seit 2012 hatte er das 125-Millionen-Land regiert. Dank einem neuen Medikament habe er die chronische Erkrankung mit dem Namen Colitis ulcerosa in den Griff gekriegt. «In diesen beinahe acht Jahren habe ich jeden Tag mit voller Kraft gearbeitet», sagte er mit stockender Stimme und verbeugte sich. Jetzt aber gehe es nicht mehr.
Dafür möchte mich bei allen Japanerinnen und Japanern entschuldigen.
Einige Tage zuvor hatte Abe einen neuen Rekord aufgestellt als der am längsten regierende Premierminister seines Landes. Seine lange Rekordamtszeit darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der 65-jährige Politiker nicht annähernd das halten konnte, was er seinen Unterstützern versprochen hatte. Ob bezüglich der Wirtschaft, der internationalen Beziehungen oder der Verfassungsreform: Abe hat den Mund immer wieder zu voll genommen.
Nachdem Abe für lange Zeit fest im Sattel gesessen hatte, hatte sich der Eindruck eines zaudernden Politikers zuletzt auch in der Öffentlichkeit durchgesetzt. Umfragen zeigten über die vergangenen Wochen, dass nur noch rund ein Drittel der Bevölkerung mit Abes Arbeit zufrieden war. Nebst Vetternwirtschaft-Vorwürfen und dem laxen Umgang mit Steuergeldern war hierfür zuletzt vor allem seine unglückliche Reaktion auf die Coronapandemie verantwortlich. Zuerst spielte Abe die Gefahr des Virus herunter, womöglich, um die ursprünglich für diesen Sommer geplanten Olympischen Spiele in Tokio nicht zu gefährden. Fortan lief er den Entwicklungen eher hinterher, als dass er selbst Konzepte vorgelegt hätte. Im Moment erlebt Japan eine neue Ansteckungswelle, das Land zählt rund 66'000 Infektionsfälle.
Die japanische Wirtschaft krankt entsprechend – allerdings nicht nur wegen der Coronapandemie. Schon im Quartal vor dem Ausbruch war das Wachstum negativ. Nun steckt das Land in einer tiefen Rezession. Shinzo Abes vielzitierte Strategie „Abenomics“ – eine Kombination aus sehr lockerer Geldpolitik, hohen Staatsausgaben und wachstumsfördernden Strukturreformen – ist die versprochenen Wachstumseffekte schuldiggeblieben. Daran konnten auch mehrere neuabgeschlossene Handelsverträge sowie eine zaghafte Öffnung für Arbeitsmigranten wenig ändern. Gestiegen sind neben dem Aktienmarkt dafür die Staatschulden.
Auch aussenpolitisch ist Abe hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Im Vorfeld des G7-Gipfels in Osaka 2019 hatte er eine Wiederbelebung der Welthandelsorganisation angekündigt, erreichte aber wenig in diese Richtung. Ähnlich sieht es aus mit dem Versuch, nach Nordkorea entführte Landsleute zurück nach Japan zu holen. Verbessert hat sich dagegen zuletzt der von Rivalität geprägte Kontakt zu Peking. Für dieses Jahr war ein Staatsbesuch des chinesischen Regierungschefs Xi Jinping in Tokio geplant, der wegen der Coronakrise aber verschoben werden musste.
Ironischerweise hat sich Japan unter Abe auch auf anderer Ebene dem großen Nachbarn China angenähert. Inmitten mehrerer Drohgebärden gegen Journalisten und eines neuen Staatsgeheimnisgesetzes ist Japan in internationalen Vergleichen der Pressefreiheit weit zurückgefallen. Zudem hat ein Verfassungsentwurf von Abes Partei vorgesehen, dass das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit eingeschränkt werden könne, sobald deren Ausübung der öffentlichen Ordnung schade.
Allerdings hat Abe auch dieses Vorhaben nicht umsetzen können – ebenso wie seine damit verbundene Herzensangelegenheit, den pazifistischen Artikel 9 in der Verfassung zu streichen oder zumindest zu schwächen. Der Artikel legt fest, dass Japan keinen Krieg führen und entsprechend keine Streitkräfte unterhalten darf. Abes Regierung hatte – unter dem wachsenden militärischen Druck von Kontrahent China – zuletzt versucht, an den pazifistischen Grundfesten des Landes zu rütteln.
Im Umgang mit der Coronapandemie hat Abe am Freitag angekündigt, dass sein Land mit Hochdruck an einem neuen Impfstoff arbeiten und in der Zwischenzeit die Testkapazitäten deutlich erhöhen wolle.
79-Jähriger wird Abe wohl ersetzen
Im Amt des Premierministers könnte ihm zunächst sein Vize Taro Aso folgen. Wie Abe war auch der 79-jährige Aso von 2008 bis 2009 schon einmal ein eher glückloser Premier. Er wird ebenfalls dem nationalistischen Lager zugeordnet und hat bisher als Finanzminister die hohe Ausgabenpolitik Abes mitgetragen.
Eine deutliche politische Kehrtwende wäre mit diesem Personalwechsel zunächst nicht zu erwarten. Allerdings wird schon seit Wochen darüber spekuliert, ob die eigentlich erst im Herbst 2021 anstehenden Parlamentswahlen vorgezogen werden sollten.