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Anstatt auf Augenhöhe mit Präsident Erdogan musste EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen beim Besuch in Ankara am Katzentisch sitzen. Wer hat Schuld am diplomatischen Affront? Die Europäer, sagt der türkische Aussenminister.
Es ist eine Szene, die längst auch ausserhalb der Brüsseler Journalisten-Blase für Gesprächstoff sorgt: Beim Besuch beim türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan am Dienstag musste EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf einem Sofa am Rand Platz nehmen, während ihr Kollege, EU-Ratspräsident Charles Michel sich mit dem türkischen Präsidenten von Angesicht zu Angesicht unterhalten durfte. Ein Video zeigt die verdutzte Reaktion der Kommissions-Chefin, wie sie nur ein ratloses «Ähm?» über die Lippen bringt.
Die Frage steht im Raum: Hat der Patriarch Erdogan hier bewusst seine Geringschätzung zum Ausdruck gebracht? Spricht Erdogan, der sein Land erst kürzlich aus der Istanbuler Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt führte, nur mit Männern? Dazu muss man wissen: Bei solchen hohen Besuchen zählt jedes Detail. Die Sitzordnung wird nicht einfach dem Zufall überlassen sondern ist Teil diplomatischer Absprachen.
In der Türkei weisst man sämtliche Vorwürfe zurück. Man habe sich strikt an das Protokoll gehalten, welches den Forderungen und Vorschlägen der EU-Seite nachgekommen sei, sagte der türkische Aussenminister Mevlüt Cavusoglu am Donnerstag. Die Türkei sei ein Staat mit einer langen Tradition. Man würde nicht zum ersten Mal Gäste empfangen. Die Anschuldigungen seien ungerechtfertigt.
Die Nachrichtenagentur «Middle East Eye» zitiert türkische Beamte, die auf die Rivalität zwischen den beiden EU-Spitzen von der Leyen und Michel als Grund für den mittlerweile als «Sofagate» bekannten Vorfall verweisen. Die Sitzordnung sei mit dem Team von Ratspräsident Michel besprochen und für gut befunden worden. Eine Sitzordnung für das Mittagessen, wo von der Leyen und Michel dem türkischen Präsidenten gleichwertig hätten gegenüber sitzen sollen, sei vom Team-Michel abgelehnt worden.
Michel selbst verteidigte sich in einem Facebook-Beitrag am Mittwochabend. Er zeigte sich enttäuscht darüber, dass ihm so viel Enttäuschung entgegenschlug: Die Videobilder hätten «den falschen Eindruck vermittelt», dass ihn die Situation nicht gekümmert hätte. Das Gegenteil sei der Fall gewesen. Um die wichtigen Diskussionen über die Beziehung der EU zur Türkei nicht zu gefährden, habe man sich aber entschieden, keinen diplomatischen Vorfall zu provozieren und über die protokollarische Ungleichbehandlung hinwegzusehen.
Unterdessen schlägt dem ehemaligen belgischen Premierminister Charles Michel viel Kritik in den sozialen Medien entgegen. Der österreichische ex-Bundeskanzler Christian Kern bezeichnete ihn als «Witzfigur» und auch Wolfgang Ischinger, Organisator der Münchner Sicherheitskonferenz, verwies darauf, dass solche protokollarischen Arrangement keine Nebensächlichkeiten wären.
Von Erdogan darf man nichts anderes erwarten, aber das sich der EU-Ratspräsident zu einer Witzfigur degradiert ist bitter. https://t.co/UyhSzUhWh9
— Christian Kern (@KernChri) April 6, 2021
Protokoll ist Politik. Lernt man im AA als Attache. Als ich 89 Moskaureise der BT-Praes. gemeinsam mit Praes der frz Nationalversammlung vorzubereiten hatte, haben wir alles en Detail vorher ausgehandelt, von den Sitzordnungen bis zur Reihenfolge der Tischreden bei Gorbi.wichtig! https://t.co/K6GKByc7nN
— Wolfgang Ischinger (@ischinger) April 7, 2021
Von der Leyens Sprecher sagte am Mittwoch, die Kommissionspräsidentin sei «überrascht» gewesen, dass ihr kein Stuhl angeboten wurde. Sie hätte auf gleicher Ebene wie der Ratspräsident behandelt werden sollen und man werde sicherstellen, dass sich ein solcher Vorfall nicht mehr wiederholt. Gleichwohl sei die Substanz des Gespräches wichtiger gewesen, weshalb von der Leyen nicht auf Protokollfragen insistiert habe.