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Die Vorfälle von Chemnitz haben sich längst zu einer Affäre nationalen Ausmasses ausgeweitet. Die Politik steht vor einer Herkulesaufgabe. Ausländer stehen in weiten Kreisen in Chemnitz bereits unter Generalverdacht, der Vorfall von Sonntagnacht hat die Abneigung gegenüber den Flüchtlingen verschärft.
Ein Meer bunter Blumen liegt mitten auf der Strasse, zwischendrin immer wieder handschriftliche Botschaften. «Fassungslos über das Ausmass der Gewalt», hat jemand auf einen Zettel geschrieben. Chemnitz, die 250'000-Einwohner-Metropole im südlichen Sachsen am dritten Tag nach den erschreckenden Vorkommnissen, die sich hier seit Sonntag zugetragen haben.
Der Feierabend rückt näher an diesem spätsommerlichen Dienstag in Chemnitz. Vor der Sparkasse, entlang der viel befahrenen Brückenstrasse, finden immer mehr Menschen zusammen, die nun vor dem Mahnmal aus Blumen stehen, die meisten schweigend. Die Stimmung droht kurz nach 17 Uhr zu kippen, als Einheimische ein holländisches Kamerateam anpöbeln. «Lasst uns in Ruhe trauern!», rufen sie in Richtung einer jungen Reporterin.
Die Menschen sind wütend, die Medien würden ein falsches Bild von Chemnitz, von Sachsen zeigen. Alle redeten sie nur über die Rechtsextremen, nicht aber über den furchtbaren Tod ihres Freundes. «Wir demonstrieren gegen die, die das gemacht haben!», schreit eine junge Frau. «Wir wollen hier endlich das Recht durchsetzen!» Der Kameramann, ein junger Mann aus Deutschland, echauffiert sich, wendet sich an die Menge: «Ihr toleriert rechtsextremen Hass!» Eine Mutter mit ihrem Kleinkind sagt: «Die Ausländer, die Leute umbringen, Frauen vergewaltigen und Menschen beklauen, die sollen dahin, wo sie herkommen.»
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Die Vorfälle von Chemnitz haben sich längst zu einer Affäre nationalen Ausmasses ausgeweitet. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte, dass die verständliche Erschütterung über die Tötung des 35-jährigen Deutschen missbraucht werde, «um Ausländerhass und Gewalt auf die Strassen der Stadt zu tragen». Kanzlerin Angela Merkel sprach von «Hetzjagden» gegen Migranten, «und das hat mit unserem Rechtsstaat nichts zu tun». Rechtsextreme hätten die Geschehnisse von Chemnitz instrumentalisiert, sagte Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU). Er rief die Menschen in Sachsen dazu auf, sich «vor unsere ausländischen Mitbürger zu stellen».
Die Politik steht vor einer Herkulesaufgabe. Ausländer stehen in weiten Kreisen in Chemnitz bereits unter Generalverdacht, der Vorfall von Sonntagnacht hat die Abneigung gegenüber den Flüchtlingen verschärft. Weniger als 8 Prozent beträgt der Ausländeranteil in Chemnitz, unter 3 Prozent von ihnen sind Flüchtlinge. Zwei junge Syrer, beide 25 und seit zweieinhalb Jahren in Chemnitz, wollen sich nicht gegen die Menschen in Deutschland äussern. Vielmehr verurteilen sie die Tötung des 35-jährigen Deutschen. Obwohl nicht klar ist, welche Rolle die beiden inhaftierten Männer aus dem Irak und Syrien dabei spielten, glauben sie, sich im Namen aller Flüchtlinge entschuldigen zu müssen. «Es ist nicht gut, wenn Flüchtlinge kriminell werden», sagt Tanatra aus Damaskus, und sein Kollege Hasan aus dem syrischen Al Hasaka fügt hinzu: «Es gibt auch gute Ausländer hier.»
Nur unweit daneben kommt es zu einer bemerkenswerten Begegnung zwischen einer 56-jährigen Chemnitzerin, die mit ihrem 2-jährigen Enkelsohn spazieren geht, und einem 37-jährigen syrischen Flüchtling aus Damaskus, der 2015 im Zuge der Flüchtlingskrise nach Deutschland eingereist ist. Die Frau fällt dem Reporter, der sich mit dem Syrer unterhält, ins Wort. Es gäbe zu viele Ausländer hier, schimpft sie. Die würden nicht arbeiten, den Staat bloss viel Geld kosten, viele würden kriminell, pöbelten die Leute an. Der Syrer steht verschämt lächelnd neben ihr, sein Deutsch ist nicht schlecht, er versteht das Meiste. Auf die Frage, ob der Syrer denn hier bleiben dürfe, reagiert sie ausweichend. «Er ist ein netter Mann», sagt sie, nun klopft sie dem Mann gar fast freundschaftlich auf die Schulter, «aber er ist so kräftig gebaut, der soll nach Syrien gehen und beim Aufbau seines Landes helfen.»
Ein 78-jähriger Mann hält den Staat in Deutschland für zu schwach, daher könnten sich Rechtsextreme überhaupt erst Gehör verschaffen. Der in der DDR aufgewachsene Mann möchte keine Diktatur zurück, aber so, wie es die Russen machen würden, sei es vielleicht auch nicht verkehrt, sinniert der ehemalige Metallbauschlosser. «Ich hab schon vor der Wende gewarnt, dass sich der Westen kaputtdemokratisiert», sagt er nun, «die Polizei, also die Staatsmacht hier, wird behandelt wie der letzte Dreck.» In der DDR habe es ebenfalls Ausländer gegeben, «aber die hat man eben zurückgeschickt, wenn man sie nicht mehr gebraucht hat.» Er ist sich sicher: «Die Politik muss die Richtung dominanter vorgeben.»