SYRIEN: Ohnmacht nach dem Giftgas-Massaker

Der Bürgerkrieg hat mit dem Einsatz von Giftgas eine neue Dimension erreicht. Der Schweizer Kriegsreporter Kurt Pelda drängt den Westen zum Eingreifen. Ein Nahost-Experte indes zweifelt an der Theorie, wonach Assad hinter der Gräueltat stecken soll.

Christoph Reichmuth Christoph Reichmuth
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Syrische Frauen, die in der libanesischen Hauptstadt Beirut wohnen, gedenken der vielen getöteten Kinder in ihrer Heimat. (Bild: AP/Hussein Malla)

Syrische Frauen, die in der libanesischen Hauptstadt Beirut wohnen, gedenken der vielen getöteten Kinder in ihrer Heimat. (Bild: AP/Hussein Malla)

Die Bilder, die uns gestern erreichten, wühlen auf. Menschen in Agonie, sterbende Kinder, alte Leute mit Schaum vor dem Mund, Menschen mit stecknadelkleinen Augenpupillen. Bis zu 1300 Menschen sollen nach Angaben der oppositionellen Nationalen Syrischen Allianz bei dem Giftgasangriff in der Nacht auf Mittwoch auf mehrere Ortschaften östlich von Damaskus getötet worden sein. Menschen, die in Keller und Bunker flüchteten, sollen keine Chance auf Überleben gehabt haben, berichten Aktivisten vor Ort. «Das Gas war schwer und sank nach unten», wird ein Arzt einer kleinen Ortschaft im östlichen Umland von Damaskus zitiert. Auffallend viele Kinder seien unter den Opfern, heisst es weiter.

Schockiert über die neuesten Entwicklungen in Syrien ist auch der Schweizer Kriegsreporter Kurt Pelda. Der 48-jährige Zürcher besuchte das Land seit Ausbruch des Bürgerkrieges vor rund zwei Jahren bereits sieben Mal – so oft wie kaum ein anderer Berufskollege im deutschsprachigen Raum.

Professionelle Handhabung nötig

Zuletzt weilte Pelda Ende Juni in der zu rund zwei Dritteln von Rebellen kontrollierten nordsyrischen Stadt Aleppo. In die vom mutmasslichen Giftgasanschlag betroffene Region bei Damaskus sei als westlicher Journalist kaum ein Durchkommen. Pelda ist überzeugt, dass hinter dem Chemiewaffen-Anschlag die Regierung um Baschar el Assad steht – auch wenn es schwierig sei, vorliegende Videos auf Authentizität zu verifizieren. «Die einzigen in diesem Konflikt, die einen derart grossen und koordinierten Giftgasanschlag durchführen können, sind die regulären Streitkräfte der Regierung.» Theorien, wonach hinter dem Anschlag radikale Rebellen stehen könnten, die den Konflikt zur Eskalation bringen und damit den Westen zum Eingreifen bewegen wollen, hält Pelda für falsch. Der offenbar in Syrien zur Anwendung gelangte chemische Kampfstoff Sarin benötige eine professionelle Handhabung. «Die Rebellen verfügen kaum über die technischen Fähigkeiten, derart grosse Mengen an Sarin zu transportieren», mutmasst der Journalist. Und fügt hinzu: «Unter den Rebellen gibt es zweifellos Gruppierungen, die auch zum Mittel der chemischen Kampfstoffe greifen würden. Aber erstens sind sie technisch dazu kaum in der Lage, und zweitens würden sie die Kampfstoffe gegen die Regierungstruppen und nicht gegen die Zivilbevölkerung einsetzen.»

«Noch nie solche Bilder gesehen»

Pelda hofft auf eine Reaktion des Westens: «Ein Einsatz mit Bodentruppen ist eine Illusion. Aber eine militärische Reaktion muss nun folgen. Der Westen soll wenigstens Assads Luftwaffe durch gezielte Abschüsse und Bombardements zerstören. Irgendwelche Sanktionen und Statements der UNO helfen nichts. Auch die Rebellen verstehen inzwischen nur noch die Sprache der Gewalt.»

Stefan Mogl, Chemiewaffenexperte beim dem Bund angeschlossenen Labor Spiez, spricht von einer «sehr besorgniserregenden» Entwicklung in Syrien. «Bilder von diesem Ausmass, mit dieser grossen Zahl an Betroffenen, der Verschiedenheit an Symptomen, habe ich aus Syrien noch nie gesehen», sagt er gegenüber unserer Zeitung. Die auf den Videos sichtbaren Symptome bei den Opfern – Pupillenverengungen, Muskelzuckungen, zitternde Menschen, Schaum vor dem Mund – seien klare Indizien für Vergiftungen mit Nervengiften. Dass die Videos möglicherweise gestellt worden sind, hält Mogl für unwahrscheinlich. «Viele der Opfer sind Kinder. Mit Kindern lassen sich solche Symptome nicht einfach nachspielen.»

Zweifel an Regierung als Täter

Dass die Regierungstruppen auf Befehl Baschar el Assads Chemiewaffen gegen die zivile Bevölkerung eingesetzt haben, hält der Nahost-Experte an der Freien Universität Berlin, Behrooz Abdolvand, allerdings für unwahrscheinlich. «Assad weiss genau, dass jeder seiner Schritte von der internationalen Gemeinschaft sehr genau beobachtet wird. Ich glaube nicht, dass hinter dem Nervengasangriff die Regierung steckt.» Zumal sich derzeit ein Team von Chemiewaffenexperten der UNO im Land aufhält, das angebliche frühere Giftgasattacken untersuchen soll. Abdolvand verweist auf die unübersichtliche Lage mit rund 300 Rebellengruppen im Land. Längst spielen die el Kaida und ihr syrischer Arm Nusra-Front sowie die Gotteskrieger des «Islamischen Staat Irak und Grosssyrien» in dem strategisch so bedeutsamen Land eine tragende Rolle. Vielen der fanatischen Islamisten soll ein Sieg in Damaskus nur eine Etappe auf dem Weg nach Jerusalem sein. «El Kaida und ihre Verbündeten wissen genau, dass sie ohne Eingreifen des Westens keine Chance haben, das Assad-Regime zu stürzen», sagt Abdolvand. Mit dem Chemiewaffen-Einsatz versuchten die religiösen Eiferer, den Westen für ihre Ziele – den Sturz Assads und den Aufbau eines islamischen Syriens – zu instrumentalisieren. «Die Wahrscheinlichkeit ist sehr gross, dass radikale Assad-Gegner hinter dem Chemiewaffen-Angriff stehen.»

«Wahl zwischen Pest und Cholera»

Abdolvand rät Assad dazu, die UNO-Inspekteure in die betroffene Region östlich von Damaskus zu lassen. «Wenn er nichts zu verbergen hat, kann er den Verdacht dadurch von sich weisen.» Scharfe Kritik übt Abdolvand zudem am Vorgehen des Westens. In Syrien würden nicht nur liberale, nach Demokratie strebende Rebellen in ihrem Kampf gegen Assad unterstützt, sondern eben auch radikale Islamisten. «Frankreich drängt in Mali die Islamisten zurück, in Ägypten werden die Muslimbrüder mit Tolerierung der USA und Europas bekämpft, doch in Syrien werden die gleichen radikalen Kreise vom Westen unter dem Deckmantel eines angeblichen Kampfs für Demokratie unterstützt. Das führt nicht zu einer Entspannungspolitik.» Der Bürgerkrieg in Syrien sei längst kein Krieg der Rebellen gegen Assad mehr. «Minderheiten wie die Alewiten und die Drusen kämpfen um ihr Überleben, auch die Schiiten fürchten um ihre Existenz. Es geht schon lange nicht mehr um einen Kampf für Demokratie, es geht nur noch um Überleben oder Sterben.» Chancen für einen Eingriff des Westens sieht der Nahost-Experte nicht: «Dafür bräuchte es mindestens 100 000 Soldaten.» Abdolvand skizziert eine düstere Zukunft für Syrien: «Es ist kein Entscheid mehr zwischen Gut und Böse, sondern zwischen Pest und Cholera.»

Zu gefährlich für eine Rückkehr

Der Schweizer Kriegsreporter Kurt Pelda, Vater zweier Söhne, wird vorderhand nicht mehr nach Syrien zurückreisen. Die Lage ist ihm zu gefährlich, die Gefahr, entführt zu werden, sei momentan sehr gross. «Der Krieg wird von Extremisten auf beiden Seiten diktiert. Das ist die Folge des westlichen Nichtstuns. Die Radikalisierung schreitet voran, es werden leider noch sehr viele Menschen mehr ihr Leben in diesem Krieg verlieren.»