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Ein 43-jähriger Deutscher hat in Hanau neun Menschen mit ausländischen Wurzeln, seine Mutter und sich selbst erschossen. Es ist der dritte rechtsextremistisch motivierte Mordanschlag innert weniger als einem Jahr. Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime rief dazu auf, eigene Schutzmassnahmen zu ergreifen.
Hunderte versammelten sich gestern Abend zu Mahnwachen an verschiedenen Orten Deutschlands. Vor allem im hessischen Hanau versammelten sich spontan viele Menschen. Dort war es am späten Mittwochabend zu der schrecklichen Tat mit 11 Todesopfern gekommen, darunter neun Menschen mit ausländischer Herkunft oder Migrationshintergrund. Auch vor dem Brandenburger Tor in der Hauptstadt Berlin kamen Politiker und Bürger zusammen, um gegen Hass und Rassismus ein Zeichen zu setzen.
Am Motiv des 43-jährigen Täters Tobias R., ein deutscher Staatsbürger mit Abschluss in BWL, gibt es kaum Zweifel: Der Sportschütze handelte offenkundig aus rassistischen, rechtsextremen Motiven, seine Opfer suchte er gezielt in Shisha-Bars in der hessischen 100'000-Einwohner-Stadt aus. Ein Bekennerschreiben, das der Täter einige Tage vor der Tat offenbar zusammen mit einem kruden, verschwörungstheoretischen Video ins Netz gestellt hatte, gibt Einblick in eine wirre Welt, die geprägt sein musste von völkischem, rassistischem Gedankengut. In dem 24 Seiten umfassenden Manifest offenbart der Mann seine paranoide Weltsicht und sinniert über eine fremde Geheimdienstmacht mit amerikanischem oder deutschem Hintergrund, welche in der Lage sei, sich in Gedanken der Menschen hineinzufressen und die Gesellschaft dadurch zu manipulieren.
Auf etwa zweieinhalb Seiten, so berichtet die «Bild»-Zeitung, zeigt er seine völkisch-rassistische Gesinnung. Gut 20 Staaten, darunter Indien, die Türkei und Israel, müssten demnach «komplett vernichtet werden», später solle die Zerschlagung weiterer Länder folgen. Zudem unterteilte er die Menschheit in «reinrassige» und «wertvolle» Menschen, wozu er das deutsche Volk zählte. Weiter finden sich krude Theorien, wonach Tobias R. die Hollywoodfilmindustrie und den amerikanischen Präsidenten Donald Trump gedanklich beeinflusst habe.
Generalbundesanwalt Peter Frank sprach davon, dass der Täter eine «zutiefst rassistische Gesinnung» aufweise. Die Ermittlungsbehörde untersucht derzeit, ob Tobias R. Mittäter oder Mitwisser hatte. Erkenntnisse über Vorstrafen oder Ermittlungen mit politischem Bezug gegen den Mann liegen keine vor.
Der Anschlag von Hanau dürfte die politische Debatte in Deutschland in den nächsten Monaten verschärfen, da es sich bereits um den dritten rechtsextremistisch motivierten Mordanschlag innerhalb von weniger als einem Jahr handelt. Im Frühsommer wurde der CDU-Politiker Walter Lübcke von einem Rechtsextremisten regelrecht hingerichtet, weil sich Lübcke in den Jahren zuvor für die Aufnahme von Flüchtlingen eingesetzt hatte. Im Oktober des letzten Jahres konnte nur mit Glück ein Blutbad in der Synagoge von Halle verhindert werden. Da die Synagoge verriegelt war, tötete der aus Deutschland stammende Rechtsextremist in der Stadt zwei Menschen.
Offenbar verhinderten die Behörden gerade eben erst weitere rechtsterroristische Anschläge auf Politiker und Asylbewerber. In der letzten Woche wurde die rechtsextreme «Gruppe S» ausgehoben, die offenbar Anschläge gegen Moscheen geplant hatte. 12 Verdächtige sitzen in Untersuchungshaft.
Längst ist klar, dass der Rechtsterrorismus in Deutschland nach dem Auffliegen des NSU-Trios nicht beseitigt ist. Der selbsternannte «Nationalsozialistische Untergrund» tötete im Verborgenen und von den Behörden unentdeckt zwischen 2000 und 2007 neun Migranten und eine Polizistin, zudem verzeichnen die Behörden 43 Mordversuche im Zusammenhang mit dem NSU, der erst 2011 entdeckt worden war. Im letzten Jahr gab das Innenministerium bekannt, dass die Zahl der Rechtsextremisten mit 24'000 einen «neuen Höchststand» erreicht habe.
Sowohl der Zentralrat der Muslime als auch der Zentralrat der Juden äusserten ihre Sorge, dass sich Minderheiten und Menschen anderen Glaubens in Deutschland nicht mehr sicher fühlen könnten. Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime (ZMD), Aiman Mazyek, hat Muslime in Deutschland zu erhöhter Wachsamkeit aufgerufen. Sie sollten bundesweit «eigene Schutzmassnahmen» für sich, ihre Familien und ihre Gotteshäuser ergreifen. Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, betonte, es stelle sich die «besorgniserregende Frage», wie sicher Minderheiten in Deutschland noch leben könnten.
Solche Äusserungen hoher Glaubensvertreter treffen Deutschland mit seiner verheerenden Geschichte hart. «Ich weiss, dass Sie jetzt Angst haben», wandte sich der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier an Menschen, «die vielleicht anders aussehen, die aus anderen Ländern zu uns gekommen sind». Zugleich versicherte der CDU-Politiker, dass Deutschland alles tun werde, «um gegen Rassismus, Hetze und Hass anzukämpfen. Wir sind an eurer Seite.» Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte: «Rassismus ist ein Gift, Hass ist ein Gift.» Zugleich kündigte die Regierungschefin an, ihr Land werde diesen Hass nicht tolerieren. «Wir stellen uns denen, die versuchen, Deutschland zu spalten, mit aller Kraft und Entschlossenheit entgegen.»
Derweil begannen in der politischen Debatte die Schuldzuweisungen. Politiker verschiedener Parteien unterstellten der Alternative für Deutschland (AfD) eine Mitschuld am vergifteten Klima im Land. Die Ereignisse in Hanau seien Beleg dafür, dass die CDU niemals mit der AfD zusammenarbeiten dürfe, sagte Annegret Kramp-Karrenbauer. In der Partei gäbe es Rechtsextreme und «ich sage bewusst Nazis», so die CDU-Chefin weiter.
Der innenpolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, Gottfried Curio, entgegnete: Es sei «an diesem Tag der Trauer» nicht angezeigt, die Gewalttat «eines offensichtlich massiv psychisch gestörten Einzeltäters» zu instrumentalisieren, um zu versuchen, «die nach wie vor grundsätzlich zu hinterfragende Regierungspolitik gegen legitime Kritik zu immunisieren», indem «zur Verleumdung des politischen Gegners» gegriffen werde.
Zum Tathergang ist bekannt, dass Tobias R. gegen 22 Uhr in zwei nebeneinanderliegenden Shisha-Bars in der Innenstadt von Hanau Schüsse abgab und dabei drei Menschen und einen vierten – einen Passanten – tötete. Danach fuhr er mit seinem Auto, in dem die Behörden laut Berichten weitere Waffen und Munition gefunden haben, an einen etwa zweieinhalb Kilometer entfernten Tatort in einem Wohnquartier. In einer dortigen Bar eröffnete der 43-Jährige abermals das Feuer, fünf Menschen starben, mehrere Menschen wurden verletzt.
Nach der Ermordung von neun Menschen – offenbar sind unter den Toten fünf Menschen mit türkischer Staatsbürgerschaft – fuhr der Mann laut Medienberichten in die nahegelegene Wohnung, wo sich offenbar seine 72-jährige, bettlägerige Mutter aufhielt. Mutmasslich tötete Tobias R. seine Mutter, dann richtete er sich selbst.