Zwischen Polen und der EU herrschen seit Kurzem neue Spannungen. Der Grund: Die Union hat ein Verfahren gegen das Land im Osten Europas eröffnet, das bisher noch nie zur Anwendung gekommen ist. Nun steht Polen am Scheideweg zwischen Austritt und Versöhnung.
Polen als isolierte Zwiebel im Weltall, darüber der Slogan «Pol-Exit». So sieht ein Danziger Graffiti-Künstler sein Land. Das politisch inspirierte Wandbild zierte eine ganze Häuserwand unweit der weltberühmten ehemaligen «Lenin-Werft». Dort hatten Arbeiter unter der Führung von Lech Walesa 1980 mit Streiks das Ende des Kommunismus in Polen eingeläutet und damit den Weg des Landes ab der Wende von 1989 zurück in die europäische Staatengemeinschaft vorgespurt.
Der Marsch gipfelte 2004 im freiwilligen EU-Beitritt. Doch dieser wird seit dem Machtwechsel von 2015 zur rechtspopulistischen Kaczynski-Partei «Recht und Gerechtigkeit» (PiS) immer öfter infrage gestellt. Nicht zuletzt deshalb hat der stadtbekannte Sprayer die Zwiebel namens Polen vor ein paar Tagen durch ein schnippisches Porträt Jaroslaw Kaczynskis ersetzt, des PiS-Vorsitzenden. Kaczynski ist Polens starker Mann, er alleine bestimmt, was seine Minister in Brüssel versprechen und in Warschau tatsächlich umsetzen.
Brüssel hatte kurz vor der Silvesternacht ein Vertragsverletzungsverfahren gemäss Artikel 7 gegen Warschau wegen der Justizreform der rechtspopulistischen Regierung eingeleitet. Dies ist ein Präzedenzfall seit Gründung der EU im Jahr 1992. Polen droht damit der Stimmrechtsverlust innerhalb der EU. Auch rechnen viele unabhängige Ökonomen nun mit einem drastischen Einbruch der Auslandsinvestitionen an der Weichsel. Dies könnte Polens bisher robustes Wirtschaftswachstum gefährden und der Regierung einiger Mittel für ihre populistische und deshalb populäre Sozialpolitik entziehen.
«Das Misstrauen gegenüber der EU wird nun auf nie gekannte Höhen klettern», fürchtet Konrad Szymanski, der Europaminister der Regierung. Die Europäische Kommission habe sich leichtsinnig zu einem riskanten Schritt verleiten lassen. Die Kaczynski-Regierung stellt sich im Streit mit Brüssel auf den Standpunkt, die polnische Justiz sei nicht Angelegenheit der EU. Zudem setzt sie auf das von Viktor Orban zugesicherte Veto Ungarns. Da eine Verurteilung gemäss Artikel 7 einstimmig fallen muss, droht Polen damit erst einmal ausser einem Imageverlust nichts.
Allerdings fürchten viele in Polen, dass sich Warschaus Igelstellung nun verstärken wird. Kaczynskis Anhänger geben inzwischen vor, die Souveränität Polens gegen die EU zu verteidigen. Dass Polen der EU vor 13 Jahren nach einem entsprechenden Referendum freiwillig beigetreten ist und massiv von den EU-Strukturhilfen profitiert, stört den gewieften Machtpolitiker Kaczynski wenig. Bereits sprechen Radikale von einem Pol-Exit, dem Austritt Polens aus der EU nach einem Brexit-ähnlichen Volksentscheid also.
Solche Ideen würden nun an Bedeutung gewinnen, schätzt Agata Stachowiak, eine EU-Fachfrau. «Die bisher fast blinde Liebe der Polen zur EU wird bald bröckeln», sagt sie. Das Artikel-7-Verfahren habe nur das Fass zum Überlaufen gebracht, denn längst sei vielen klar geworden, dass Brüssel mit zweierlei Mass messe.
So umstritten viele Reformen der PiS sein mögen, in den vergangenen zwei Jahren ist es in Polen nur sporadisch zu Massendemonstrationen gekommen. Seitdem Ende November überraschend der Premierminister ausgewechselt wurde, erfreut sich die PiS mit einer Zustimmung um über 40 Prozent wieder eines Umfragehochs. Noch beliebter als die Regierungspartei ist allerdings die EU.
Der Politologe Aleksander Smolar traut dem neuen Regierungschef Mateusz Morawiecki durchaus zu, auf einen Kompromiss mit Brüssel in der Frage der umstrittenen Justizreform hinzuarbeiten. Morawiecki könnte sich als Versöhner gegenüber Brüssel erweisen, schätzt Smolar.
Dann allerdings scheint im persönlichen Gespräch wieder jene Portion Vorsicht hervor, die die meisten Polen auszeichnet. «Kaczynski wird Morawiecki nur so lange an der Macht dulden, wie er ihm nützlich erscheint», warnt der Politologe. Das heisst: Sobald Kaczynski Polen wieder als isolierte Zwiebel im Weltall sehen will, wird der lächelnde Ex-Banker durch einen EU-skeptischen Premierminister ersetzt.