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Internationale Kritik und Demonstrationen begleiten den Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention. Auch US-Präsident Joe Biden verurteilt den Schritt.
Die Türkei ist mit Wirkung vom Samstag aus der Istanbul-Konvention ausgetreten, einem Abkommen, das Frauen vor Gewalt und Diskriminierung schützen soll. Menschenrechtsgruppen und Frauenverbände reagieren mit Protesten. Aus dem Ausland kommt scharfe Kritik.
In einer feierlichen Zeremonie setzte Recep Tayyip Erdogan am 11. Mai 2011 als Regierungschef in Istanbul seine Unterschrift unter eine Konvention des Europarats, die in der Bosporusmetropole ausgearbeitet wurde und ihren Namen trägt. Jetzt verfügte Erdogan als Staatschef mit einem Federstrich den Austritt seines Landes aus der Übereinkunft. Erdogans Anordnung löste Proteststürme in den sozialen Netzwerken, Demonstrationen in mehreren türkischen Städten und internationale Proteste aus.
Die Konvention verpflichtet die Mitgliedsstaaten zur Gleichstellung der Geschlechter in ihren Rechtssystemen. Die Regierungen sollen körperliche und sexuelle Gewalt gegen Frauen verfolgen und Hilfsangebote für Frauen verbessern. Der Übereinkunft sind inzwischen 45 Staaten beigetreten. 34 Länder haben sie ratifiziert, zu den ersten gehörte im Februar 2012 die Türkei.
Dort wurde allerdings seit langem kontrovers über das Abkommen diskutiert. Auch in der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP gab es Befürworter und Kritiker. Zu letzteren gehörte Erdogan. Schon 2017 hatte er unter Anspielung auf die Konvention erklärt, die Türkei brauche «keine ausländischen Modelle, Übersetzungen oder Kopien, um die Rechte unserer Frauen zu schützen.»
Der türkische Staatschef erklärte mehrfach, die Gleichberechtigung von Mann und Frau sei «widernatürlich». Vizepräsident Fuat Oktay sagte, die Türkei solle zum Schutz der Frauenrechte nicht andere imitieren. «Die Lösung liegt in unseren Bräuchen und Traditionen», so Oktay.
Genau dort scheint aber die Wurzel des Problems zu liegen. Gewalt gegen Frauen ist in der Türkei ein besonders grosses Problem. Nach einer Studie der UNO erleiden 38 Prozent aller türkischen Frauen im Laufe ihres Lebens physische oder sexuelle Gewalt durch ihren Partner.
Die Nichtregierungsorganisation Anit Sayac, die sich für Frauenrechte einsetzt, dokumentierte im vergangenen Jahr mindestens 408 Morde an Frauen. Seit Beginn dieses Jahres sind nach Angaben von Anit Sayac weitere 77 Frauen ermordet worden. Die Täter waren in den meisten Fällen Partner oder Familienmitglieder. Häufig geht es um so genannte «Ehrenmorde»: Frauen werden getötet, weil sie die vermeintliche «Familienehre» verletzt haben, etwa durch eine vor- oder aussereheliche Beziehung oder durch eine Kleidung und einen Lebenswandel, die in einer konservativ-islamischen Wertordnung als «unsittlich» empfunden werden.
Der Europarat bezeichnete den Austritt der Türkei aus der Konvention als «niederschmetternd». Er sei ein riesiger Rückschlag, der «den Schutz von Frauen in der Türkei, in ganz Europa und darüber hinaus untergräbt».
US-Präsident Joe Biden nannte die Aufkündigung des Abkommens «zutiefst enttäuschend». In einer Erklärung des Präsidenten hiess es: «Dies ist ein entmutigender Rückschritt für die internationale Bewegung, die Gewalt gegen Frauen weltweit zu beenden.» Biden verwies auf die weltweite Zunahme häuslicher Gewalt und ging ausdrücklich auf die wachsende Zahl von Morden an Frauen in der Türkei ein. «Wir müssen alle mehr tun, um Gesellschaften zu schaffen, in denen Frauen ihr Leben frei von Gewalt leben können», erklärte Biden.
In Istanbul, Ankara und anderen Städten der Türkei demonstrierten Tausende Menschen mit Sprechchören wie «Setzt die Konvention um, lasst Frauen leben». Der türkische Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu äusserte in einer Videobotschaft seine Empörung: «Sie können 42 Millionen Frauen nicht über Nacht per Dekret ihre Rechte entziehen», sagte Kilicdaroglu an die Adresse Erdogans.