TÜRKEI: Wahlkampf im Ausnahmezustand

Eine neue Verfassung soll Recep Tayyip Erdogan zu massiv mehr Macht verhelfen. Doch machen die türkischen Wähler da mit? Ein Ja am 16. April ist dem Präsidenten alles andere als sicher.

Jürgen Gottschlich, Istanbul
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Türken lauschen dem Wahlkampfauftritt von Ministerpräsident Binali Yildirim. (Bild: Evrim Aydin/Getty (Ankara, 16. März 2017))

Türken lauschen dem Wahlkampfauftritt von Ministerpräsident Binali Yildirim. (Bild: Evrim Aydin/Getty (Ankara, 16. März 2017))

Jürgen Gottschlich, Istanbul

Der Coiffeursalon von Murat ist ein Treffpunkt in unserem Viertel. Murat ist ein grosser Kommunikator, er kennt jeden, und er redet mit jedem. Seit Wochen gibt es bei ihm nur ein Thema: Erdogans Volksabstimmung am 16. April und wer wohl mit Nein oder Ja stimmen wird. Stolz präsentiert Murat dem deutschen Kunden eine Karte, auf der er die Ergebnisse seiner persönlichen Meinungsumfrage notiert hat. Die Gruppe der Befragten setzt sich nicht nur aus seinen Kunden zusammen, sondern auch aus dem Gemüsehändler von nebenan, dem Bäcker gegenüber und dem kleinen Restaurant an der nächsten Ecke. Die Ergebnisse der einzelnen Befragungsorte hat Murat gesondert notiert. Sie schwanken ein wenig, aber alle kommen doch zu demselben Ergebnis: Die Nein-Sager liegen knapp vorn.

Glaubt man den Umfrageergebnissen von fast allen unabhängigen Instituten im Land, sind die Zahlen von Murat sogar repräsentativ für die gesamte Türkei. Nahezu alle Institute sehen die Nein-Sager vorne, manche sogar mit einem Vorsprung von 8 bis 9 Prozent. Präsident Recep Tayyip Erdogan und die Führung seiner AK-Partei wissen das natürlich und sind entsprechend nervös. Ein türkischer Kollege, der wie fast alle Gesprächspartner derzeit namentlich nicht genannt werden will, weist auf einen fundamentalen Unterschied zwischen früheren Wahlkämpfen und der jetzigen Referendumskampagne hin: «Erdogan», sagt er, «hat bislang immer die Themen gesetzt, und die Opposition lief dem hinterher. Dieses Mal ist es anders. Erdogan hat keine eigene Botschaft, sondern er beschimpft die Opposition als ‹Terroristen›, statt positiv für das Referendum zu werben.»

Erdogan hat immer auf ein Ziel hingearbeitet

Damit bringt er Erdogans Dilemma auf den Punkt. Die Verfassungsänderung, die ihm als Präsident nahezu unbeschränkte Machtbefugnisse bringen soll (siehe Kasten), ist einfach nicht populär. Jahrelang hat Erdogan für seine Alleinherrschaft geworben, und jahrelang hat sich gezeigt, dass die Mehrheit der türkischen Wähler und Wählerinnen das nicht will. Erst der gescheiterte Putschversuch im Juli letzten Jahres hat noch einmal die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass er nun einen letzten finalen Anlauf unternehmen kann. Ohne den Putschversuch, bei dem er sich als «Retter der Nation» präsentieren konnte, wäre die notwendige Verfassungsänderung wohl schon am Widerstand in der eigenen Partei gescheitert. Doch seit dem Putschversuch regiert Erdogan per Dekret im Ausnahmezustand und lässt keinen Widerspruch mehr zu. Jeder Funktionsträger innerhalb der AKP, der nach dem Putschversuch noch gegen Erdogans Alleinherrschaft öffentlich Bedenken angemeldet hätte, wäre sofort als «Gülen-Sympathisant», also Anhänger der Putschisten, denunziert und verhaftet worden.

Trotzdem kann sich Erdogan auch jetzt seiner Partei nicht sicher sein. Zwar wurden die Abgeordneten bei der entscheidenden Abstimmung im Parlament verfassungswidrig gezwungen, offen abzustimmen, doch das Referendum ­bietet ja nun Gelegenheit, Rache am grossen Führer zu nehmen. Insider munkeln, selbst ehemalige Gründungsmitglieder der AKP, die Erdogan in den letzten Jahren alle aus dem Weg geräumt hat, würden nun per Flüsterpropaganda für ein Nein werben. Das könnte besonders in den AKP-Hochburgen zu einer bösen Überraschung für Erdogan führen.

Während der Widerspruch innerhalb der AKP nur im Geheimen zum Tragen kommt, versucht die Opposition, eine öffentliche Nein-Kampagne auf die Beine zu stellen. Das ist allerdings leichter gesagt als getan. Die kurdisch-linke HDP ist in ihrer Handlungsfähigkeit stark eingeschränkt, weil Erdogan die Führung der Partei bereits letztes Jahr im Oktober ins Gefängnis werfen liess. Während die Partei draussen für ein Nein wirbt, müssen sich die beiden Parteiführer Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag in Dutzenden Prozessen den immer gleichen Vorwürfen von angeblicher Terrorpropaganda, Mitgliedschaft in einer Terrorvereinigung oder mindestens Präsidentenbeleidigung stellen. Beide sind in erster Instanz schon zu etlichen Jahrzehnten Haft verurteilt worden, Yügsekdag wurde von einem Gericht sogar ihre Parteimitgliedschaft aberkannt. Doch auch für die sozialdemokratisch-kemalistische CHP und ihren Parteichef Kemal Kilicdaroglu ist es nicht leicht. Während Erdogan sich scheinheilig über die Behinderung seines Wahlkampfs in Europa beklagt, wird in der Türkei die Opposition mit allen Mitteln des Staates bekämpft. Demonstrationen sind verboten, Jugendliche, die Nein-Plakate aufhängen, werden verhaftet und TV-Moderatoren, die Sympathien für ein Nein erkennen lassen, gefeuert.

Selbst Antialkoholiker sind betroffen

Die Hysterie geht so weit, dass die Antialkoholikervereinigung Plakate, auf denen für ein «Hayer» (das türkische Nein) zum Alkoholgenuss geworben wurde, schnellstens wieder abhängen musste, nicht damit ein Wähler noch auf falsche Gedanken kommt. Trotzdem gibt es eine breite Bürgerbewegung für das Nein, die sich bis vor wenigen Tagen Hoffnung machen konnte, am 16. April Erdogans Allmachtfantasien zu stoppen. Doch die «Terrornacht» von Rotterdam könnte nun zum «Game Changer» werden. Die angeblichen Angriffe in Europa könnten Erdogan die entscheidenden 2 bis 3 Prozent aus dem nationalistischen Lager bringen. Die Auseinandersetzung mit Europa gibt Präsident Erdogan die Gelegenheit, «seine Lieblingsrolle als Opfer» wieder neu aufzulegen, sagt Kolumnistin Ahu Özyurt.

Doch selbst das, hofft Meral Aksener, ehemalige Politikerin der rechtsnationalistischen MHP, die jetzt die Nein-Kampagne im rechten Lager anführt, wird Erdogan nichts mehr nützen. «Die Bevölkerung, vor allem in den kleineren Städten, ist verzweifelt», wendet sie ein und betont: «Die interessieren sich nämlich nicht für Holland, sondern für die hohe Arbeitslosigkeit und die ständig steigenden Preise.»