Wegen des Vorwurfs sexueller Belästigung hat der britische Verteidigungsminister den Hut genommen. Da weitere Kabinettsmitglieder unter Verdacht stehen und mehr Fälle zu befürchten sind, herrscht bei Premier Theresa May Aktionismus.
Jochen Wittmann, London
Um Vorwürfen des Kontrollverlusts vorzubeugen, hat die britische Premierministerin Theresa May gestern umgehend auf den Rücktritt von Sir Michael Fallon reagiert. May ernannte Gavin Williamson zum neuen Verteidigungsminister. Williamson diente zuvor als parlamentarischer Geschäftsführer der Konservativen Partei und ist einer der engsten Gefolgsleute der Premierministerin. Der 41-Jährige hatte als Kampagnenmanager Mays ihre Wahl zur Parteivorsitzenden betrieben und gilt als entschiedener Gegner des Aussenministers Boris Johnson. Unter seinen Kollegen ist Williamson wegen seines kompromisslosen Stils als «Meuchler mit dem Milchgesicht» bekannt.
Sir Michael Fallon musste zurücktreten, nachdem im Zuge der Affäre um den Hollywood-Mogul Harvey Weinstein auch in der britischen Politik immer mehr Fälle von sexueller Belästigung bekannt wurden.
Sir Michael hatte vor 15 Jahren, damals noch ein einfacher Hinterbänkler der Konservativen Partei, während eines privaten Mittagessens seine Hand auf das Knie der Journalistin Julia Hartley-Brewer gelegt. Die nahm sie weg, er platzierte seine Finger erneut an der gleichen Stelle. Daraufhin, so Hartley-Brewer, habe sie ihm «ruhig und höflich erklärt, dass, tue er es nochmals, ich ihm ins Gesicht schlagen würde». Da habe Fallon seine Hand zurückgezogen, und das «war es dann auch», laut Hartley-Brewer.
Doch obwohl die Journalistin kein Aufhebens um die Geschichte machen wollte, beendete sie die Karriere des 65-jährigen Verteidigungsministers, weil die Enthüllungen über den Sexismus im Regierungsviertel Westminster in den letzten Tagen eine fiebrige Atmosphäre haben entstehen lassen, die Hartley-Brewer selbst als «Hexenjagd» empfindet und alles andere als gutheisst.
Sir Michael Fallon begründete seinen Rücktritt damit, dass er «in der Vergangenheit nicht die hohen Standards erfüllt habe, die wir von unseren Streitkräften, die ich repräsentiere, erwarten». Doch es war wohl nicht nur das Knie der Journalistin, das ihm zum Verhängnis wurde. Fallon musste, wie britische Medien berichten, wohl auch deswegen seinen Hut nehmen, weil er gegenüber der Premierministerin nicht garantieren konnte, dass nicht weitere einschlägige Fauxpas ans Licht kommen könnten.
Neben Fallon sind einige weitere konservative Politiker von dem sich ausbreitenden Sexismus-Skandal betroffen. Den Staatssekretär im Handelsministerium Mark Garnier erwarten jetzt disziplinarische Untersuchungen, nachdem er zugab, seine Sekretärin gebeten zu haben, für ihn zwei Vibratoren in einem Sex-Shop zu kaufen. Der Tory-Abgeordnete Stephen Crabb sandte sexuell explizite SMS an eine 19-jährige Frau, die sich erfolglos um einen Job bei ihm beworben hatte. Und Premierministerin May ist auch deswegen unter Druck, weil diese Fälle nur die Spitze des Eisbergs zu sein scheinen.
Zurzeit kursiert eine Liste in den sozialen Medien, die gut 40 Abgeordnete der Konservativen nennt, die sexuelle Verfehlungen begangen haben oder eine «gesteigerte Libido» aufweisen. Unter den Genannten sind 15 Mitglieder ihrer Regierung, darunter auch Kabinettsminister. Von ihrem Stellvertreter Damian Green wurde bekannt, dass er sich gegenüber einer 30 Jahre jüngeren Frau Freiheiten herausgenommen haben soll. Kate Maltby beschrieb in einem Beitrag für die «Times», wie der 61-Jährige während eines gemeinsamen Drinks ihr Knie «flüchtig» berührt habe: «So kurz, es war fast abstreitbar.» Später habe er ihr noch eine SMS zugeschickt, die sie als «zweideutig» empfunden habe. Auch auf Damian Green kommt jetzt eine Untersuchung des Cabinet Office zu, ob er gegen den Verhaltenskodex für Minister verstossen habe. Green bestreitet den Vorfall allerdings entschieden. Er hat Anwälte engagiert, die eine Verleumdungsklage prüfen. Für May sind diese Skandale und Skandälchen alles andere als eine Lappalie. Sollte Green, einer ihrer treuesten Mitstreiter, ebenfalls zum Rücktritt gezwungen sein, würde der Eindruck verstärkt, dass ihre Regierung auseinanderfällt. Und für die Brexit-Verhandlungen ist der Eindruck von politischer Schwäche das reine Gift. Die Möglichkeit, dass May nicht in der Lage sein könnte, einen Deal im Kabinett zu vereinbaren oder durchs Parlament zu bringen, würde ihre Verhandlungsposition untergraben. «Die Schlüsselfrage ist, ob Fallon der Erste von vielen ist», meint der Politologe Tim Bale von der Queen Mary University of London. «Wenn das Rinnsal zur Flut wird und wenn es irgendwie danach aussieht, dass sie von einigen dieser Fehltritte wusste, aber nichts unternahm, dann wird es verfänglich für Frau May.»
Zumindest unternehmen will sie jetzt etwas. May hatte an den Sprecher des Unterhauses John Bercow geschrieben und ihn um Mithilfe gebeten, um für Abgeordnete einen verbindlichen Verhaltenskodex und für deren Beschäftigte ein wirksameres Beschwerdeverfahren einzuführen. Ausserdem hat sie ein Krisentreffen mit allen Parteivorsitzenden angeordnet, um zu besprechen, wie man eine unabhängige Institution einrichten könne, die in Zukunft Fälle von sexueller Belästigung untersuchen und über sie entscheiden könne. Die Zeitung «Evening Standard» brachte Mays Schwierigkeiten in einer Karikatur ins Bild. Da steht sie vor einer Talsperre und hat den Zeigefinger in ein Loch gesteckt, um die Flut aufzuhalten. Aber quer über die Mauer breitet sich ein Riss aus, der immer grösser wird.