Der amerikanische Präsident Joe Biden trifft in Brüssel die Staats- und Regierungschefs der westlichen Welt. Am Samstag reist er weiter nach Polen an die Nato-Ostflanke. Der Zweck dieses Besuchs: Russland soll wissen, dass der Westen die Reihen geschlossen hält
Die Agenda ist prall gefüllt: Drei Tage will Joe Biden in Europa verbringen. Erste Station ist Brüssel, wo der amerikanische Präsident am Donnerstag einen Sitzungsmarathon absolviert. Vorgesehen sind Treffen der 30 Nato-Mitglieder, der sieben grössten Industrienationen der Welt und der 27 Regierungs- und Staatschef der EU. Zehn Fragen und Antworten zu der historischen Reise Bidens.
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Der amerikanische Präsident reist bereits zum dritten Mal nach Europa. Doch vor dem Hintergrund des ersten Territorialkriegs auf dem Kontinent seit 1945 bekommt der jetzige Trip eine historische Note. Auf dem Programm steht nicht weniger als eine Wiedergeburt der transatlantischen Allianz.
Ganz klar: der Schulterschluss des Westens. Russlands Präsident Wladimir Putin soll zur Kenntnis nehmen, dass weiterhin kein Blatt zwischen die Staats- und Regierungschefs der westlichen Staaten passt – unabhängig von ihrer Ideologie oder ihrem Heimatland. «Die Nationen der freien Welt sind vereinter, entschlossener und zielstrebiger als je zuvor», sagte Bidens Sicherheitsberater Jake Sullivan am Dienstag.
Der Besuch in Polen ist ein Signal an Russland. Amerika als grösstes Nato-Land steht bereit, um die Ostflanke des Verteidigungsbündnisses zu schützen. Biden will den Aufenthalt in Warschau auch nutzen, eine Grundsatzrede zu halten, in der er den Ukraine-Krieg als wichtiges Kapitel im Kampf zwischen der «freien Welt» gegen autoritäre Herrscher charakterisieren wird – ein zentrales Thema seiner Präsidentschaft.
Weil die Ukraine weder Mitglied der Nato noch Teil der EU ist, sitzt sie in Brüssel nicht am Verhandlungstisch. Die Hauptforderung, die der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski an die Verbündeten stellt, ist aber seit Wochen stets die gleiche: Der Westen muss alles daransetzen, dass die Ukraine den Krieg gegen Russland gewinnt.
Die Nato wird weder in den Krieg direkt eingreifen noch eine Flugverbotszone durchsetzen. Dieser Grundsatz wird in der Ukraine akzeptiert. Kiew aber verlangt mehr Waffen. Die ukrainische Botschafterin in Amerika zitierte diese Woche einen Ausspruch von Winston Churchill aus dem Jahr 1941: «Geben Sie uns die Werkzeuge, und wir erledigen die Arbeit.» Zwingend benötigt die Ukraine Flugabwehrsysteme, weil russische Raketen die grössten Schäden verursachen. Kiew schielt auf Waffen russischer Bauart, die sich im Besitz von Ländern wie der Slowakei oder der Türkei befinden. Die entsprechenden Gespräche stocken aber.
«Keinen Zentimeter» Nato-Territorium werde man Russland überlassen, sagen sowohl US-Präsident Biden wie Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Die Verteidigungsallianz will deshalb ihre Abwehrbereitschaft stärken und Tausende Soldaten aus Nato-Mitgliedstaaten nach Bulgarien, Rumänien, Ungarn und in die Slowakei verlegen. Dazu könnten auch neue und festinstallierte Raketensysteme kommen.
Zuoberst auf der Liste steht ein Gas- und Öl-Embargo. Die USA haben ein solches bereits erlassen und je länger der Krieg andauert, desto grösser wird der Druck für Europa, hier nachzuziehen. Noch überwiegt allerdings die Angst vor «schwersten gesamtwirtschaftlichen Schäden», die gemäss dem deutschen Wirtschaftsminister Robert Habeck ein Sofort-Ausstieg verursachen würde. Einfacher sind da symbolische Sanktionen. So will der Westen am Donnerstag sämtliche Mitglieder des russischen Parlaments auf die schwarze Liste setzen.
Ein Energie-Embargo gegen Russland würde die bereits historisch hohen Energiepreise nochmals in die Höhe treiben. Eine Reihe von südlichen und mitteleuropäischen EU-Staaten fordern deshalb, jetzt einzugreifen und die Preise zu fixieren. Widerstand gibt es aus Nordeuropa: Markteingriffe würden die Lieferanten verschrecken und die Versorgungssicherheit gefährden. Die EU-Kommission schlägt nun immerhin vor, Gas künftig gemeinsam einzukaufen und die Verhandlungsmacht von 450 Millionen EU-Bürgern in die Waagschale zu werfen.
Die Nachbarstaaten der Ukraine drohen unter dem Ansturm der 3,5 Millionen Flüchtlinge zu kollabieren. Die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock forderte deshalb «solidarische Luftbrücken». Jedes Land in Europa und auch in Übersee müsse «hunderttausende» Flüchtlinge aufnehmen, so Baerbock. Solche Aussagen erhöhen den Druck auf die USA. Washington aber scheint einem gross angelegten Ansiedlungsprogramm für Ukrainer und Ukrainerinnen skeptisch gegenüberzustehen.
Mit dem Krieg in der Getreidekammer Ukraine und den Sanktionen gegen Russland, ebenfalls ein wichtiger Agrarexporteur, bahnt sich eine Hungersnot in Entwicklungsländern in Afrika sowie im Nahen Osten an. Um das Schlimmste zu verhindern, schlägt David Beasley, Chef des UN-Welternährungsprogramm nun Alarm: «Es fehlt an Milliarden», sagte Beasley in einem Interview. Wenn es die EU und der Westen nicht schaffe, schnell die notwendigen Mittel bereitzustellen, dann drohe nicht nur Hunger und Destabilisierung, sondern auch eine neue Massenmigration.