Ukraine-Krieg
Evas Kriegstagebuch (13): «Unser Bekannter Yura wurde getötet: Wer wird der Nächste sein?»

Die Schweizer Kinderheim-Leiterin erzählt vom geretteten Baby Mikhail und ihren Töchtern, von denen sie sich bald verabschieden muss.

Eva Samoylenko-Niederer
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Eva's Helfer konnten den kleinen Mikhail (im gelben Baby-Dress) aus einem zerbombten Haus retten.

Eva's Helfer konnten den kleinen Mikhail (im gelben Baby-Dress) aus einem zerbombten Haus retten.

ZVG

Eva, die Leiterin des Kinderheims Segel der Hoffnung in Slowjansk, ist mit ihren Töchtern in den Westen der Ukraine geflohen. Sie schreibt über ihren Alltag im Kriegsland Ukraine.

«Heute habe ich mir zum ersten Mal seit Ausbruch des Krieges einen Tag freigenommen. Das war nicht nur für mich, sondern auch für meine Töchter extrem wichtig. Vor allem, weil meine zwei Ältesten, Elja und Masha, bald in die Schweiz reisen und dort eine Ausbildung machen möchten. Das wird eine weitere Veränderung, ein weiterer Abschied – aber es ist zum Besten für sie. Ich komme in den nächsten Tagen wohl etwas weniger zum Schreiben, weil ich noch so viel Zeit wie möglich mit ihnen verbringen möchte. Und natürlich, weil ich ab sofort nebenamtlich als Deutschlehrerin für die beiden amten muss.

Eva's älteste Tochter Masha will die Ukraine verlassen und in die Schweiz weiterreisen.

Eva's älteste Tochter Masha will die Ukraine verlassen und in die Schweiz weiterreisen.

ZVG

Unsere Hilfsprojekte im ganzen Land laufen auf Hochtouren weiter. Gestern konnten wir über 400 Personen evakuieren. Darunter war auch der kleine Mikhail, ein Baby, das von unserem Team aus den Trümmern gerettet wurde. Seine Eltern haben leider nicht überlebt. In einer waghalsigen Rettungsaktion gelang es unseren Fahrern, Mikhail in Sicherheit zu bringen. Am Ende seiner Flucht wurde er von seinen neuen Eltern in Empfang genommen; einem ukrainischen Ehepaar, das beschlossen hat, den kleinen Jungen zu adoptieren.

Und während hier draussen der Frühling blüht, bringt der Krieg täglich neue leidvolle Nachrichten hervor.

Wir erfuhren heute, dass Yura, ein Bekannter von uns, an der Front getötet worden ist. Die Nachricht hat uns alle tief erschüttert. Er ist die erste Person, die wir persönlich kannten, die in diesem schrecklichen Krieg ums Leben kam. Wir alle stellen uns die Frage: Wer wird der Nächste sein?

Mikhail konnte von Eva's Helfern aus den Trümmern eines kaputtgebombten Hauses gerettet werden. Seine Eltern überlebten nicht.

Mikhail konnte von Eva's Helfern aus den Trümmern eines kaputtgebombten Hauses gerettet werden. Seine Eltern überlebten nicht.

ZVG

Wie die Situation in unserer Heimatstadt Slowjansk genau ist, wissen wir nicht. Es wird immer schwieriger, verlässliche Informationen und Fakten über die Lage vor Ort zu erhalten.

Die Verbreitung von Videos und Fotos, die Raketeneinschläge oder Truppenverschiebungen zeigen, ist streng verboten. Solche Informationen sind für Hacker der russischen Armee leicht zugänglich und können tödliche Folgen haben.

Vor wenigen Tagen erst wurde in der Stadt Kramatorsk ein Benzintankwagen bombardiert und zerstört, nachdem jemand im Internet ein Foto des Fahrzeuges mit genauen Ortsangaben veröffentlicht hatte. Beim Angriff wurden mehrere Menschen getötet.

Eine wahnsinnige Geschichte haben wir von Olga gehört, die aus der angegriffenen Geburtsklinik in Mariupol gerettet werden konnte. Sie hat uns erzählt: «Am 23. Februar wurde meine Tochter in der Entbindungsklinik von Mariupol geboren. Am nächsten Tag wachte ich um 4.30 Uhr auf, weil die Fenster des Krankenhauses durch die Druckwelle der ersten Raketen zerbrachen. Als mein Arzt kam und sagte, wir müssten alle sofort das Krankenhaus verlassen, weil der Krieg begonnen habe, konnte ich es nicht glauben.

Olga mit ihrer Tochter, die am 23. Februar in der inzwischen zerstörten Geburtsklinik in Mariupol zur Welt kam.

Olga mit ihrer Tochter, die am 23. Februar in der inzwischen zerstörten Geburtsklinik in Mariupol zur Welt kam.

ZVG

Ich hatte solche Angst. Am nächsten Tag mussten wir unsere Wohnung mit dem schönen, neuen Kinderzimmer verlassen und in unsere Kirche ziehen, wo es einen guten Luftschutzkeller gab. Dort verbrachte mein Baby die ersten drei Wochen seines Lebens. Die Entbindungsklinik, in der meine Tochter geboren wurde, gibt es nicht mehr, sie wurde von Raketen zerstört. Dutzende von Unschuldigen starben dabei. Das hätten leicht auch wir sein können! Ich bin all den Menschen, die uns geholfen haben, uns in Sicherheit zu bringen, für immer dankbar.»

Kinderheim Segel der Hoffnung
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Sparcassa 1816, 8820 Wädenswil
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