Auf Facebook berichtet eine Frau von ihrem Überlebenskampf in Mariupol. Von dort werden Menschen nach Russland in Lager verschleppt.
Die Vorwürfe sind ungeheuerlich. Tausende Menschen aus Mariupol seien nach Russland verschleppt und dort in Lager gebracht worden. Das sagte Lyudmyla Denisova, die Menschenrechts-Sprecherin des ukrainischen Parlaments. Zuerst in «Filtrationslager», wo ihre Handys durchsucht worden seien. Danach seien einige von ihnen in die russische Stadt Taganrog transportiert worden, etwa 100 Kilometer von Mariupol entfernt. Von dort, so Denisova, seien sie in «verschiedene wirtschaftlich angeschlagene Städte in Russland» gebracht worden. Diese dürften sie für die nächsten zwei Jahre nicht verlassen. Der Verbleib der übrigen Menschen sei unklar.
Zu den Berichten äusserte sich mittlerweile auch die US-Regierung. Sollten sie sich bestätigen, seien die Vorgänge «verstörend», sagte Linda Thomas-Greenfield, die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen. Es sei «gewissenlos», dass Russland ukrainische Bürger nach Russland zwinge und sie in «Konzentrations- und Gefangenenlager» stecke.
In der vierten Woche ihres Angriffs auf die Ukraine zeigt die russische Armee ungeahnte Schwächen. Ihr Vormarsch auf Kiew und andere Städte ist zum Erliegen gekommen. Für die Menschen in der Ukraine ist das jedoch kein Grund zum Aufatmen. Das zeigen die Vorgänge in Mariupol deutlich. Denn was die Russen nicht erobern können, machen sie dem Erdboden gleich.
Seit drei Wochen prasseln Artilleriegeschosse und Raketen auf die Metropole am Asowschen Meer ein. Putins Soldaten haben Hunderttausende Zivilisten eingekesselt, die Fluchtwege vermint und unter Feuer genommen. Wie zu dunkelsten Zeiten des Mittelalters werden die rund 200'000 Verbliebenen in der Stadt ausgehungert – und gleichzeitig mit modernstem Kriegsgerät bombardiert. In der Stadt steht praktisch nichts mehr. Fast jedes Gebäude ist beschädigt. Tausende Menschen tot.
Die Kommunikationswege aus der Stadt sind quasi nicht mehr existent. Eine, die im Überlebenskampf noch irgendwie die Möglichkeit findet, Statusupdates auf ihrer Facebook-Seite zu veröffentlichen, ist Nadia Sukhorukova. Ihr Eintrag vom Wochenende ist erdrückend.
Sukhorukova schreibt: «Ich gehe zwischen den Bombardements nach draussen. Muss mit dem Hund raus. Er winselt, zittert, versteckt sich hinter meinen Beinen. Ich möchte die ganze Zeit schlafen. Mein Block, umgeben von hohen Gebäuden, ist still und tot.» Sie berichtet von einem Angriff auf die Feuerwache. Einer Frau sei ein Arm abgerissen worden, ein Bein und der Kopf. «Ich bin sicher, ich werde bald sterben», schreibt Sukhorukova. «Es ist nur eine Frage von ein paar Tagen. In dieser Stadt wartet jeder ständig auf den Tod. Ich will nur, dass es nicht zu unheimlich wird.»
So lange die Bomben fallen, finden in Mariupol keine Begräbnisse statt. «Das hat uns die Polizei gesagt als wir sie fragten, wie wir mit der toten Grossmutter eines Freundes umgehen sollten. Sie rieten uns, sie auf den Balkon zu legen. Ich frage mich, auf wie vielen Balkonen wohl Leichen liegen?»
Autos gebe es nicht mehr auf den Strassen, schreibt Sukhorukova. Keine Stimmen, keine Grosseltern auf den Bänken. «Mein Hund beginnt zu jaulen und ich bemerke, dass sie schon wieder schiessen. Ich weiss nicht mehr, welche Tageszeit es ist, es herrscht Friedhofsstille um mich herum.» Doch, schreibt sie, ein paar Menschen seien hier. «Sie liegen am Rande des Hauses und in den Parkplätzen, bedeckt von ihrer Kleidung. Ich möchte sie nicht ansehen. Ich habe Angst, dass ich jemanden sehe, den ich kenne.»
Russland hatte der ukrainischen Regierung ein Ultimatum gestellt, Mariupol aufzugeben. Am Montagmorgen lief es aus. Die Ukrainer hatten es mit aller Deutlichkeit zurückgewiesen.
Was nun mit den Menschen in Mariupol geschieht, weiss niemand. Auch, weil die letzten beiden westlichen Journalisten inzwischen aus der Stadt gebracht wurden. Die beiden Reporter der Nachrichtenagentur AP hatten die Barbarei in Mariupol drei Wochen lang dokumentiert. Von ihnen stammen die Bilder der schwangeren Frauen, die aus der vor einigen Tagen bombardierten Geburtsklinik gebracht wurden. Weil sie die Wahrheit berichteten, seien sie auf einer Todesliste der Russen gelandet. Das ganze Ausmass des Schreckens in Mariupol wird die Welt wohl nie erfahren.