Das Verdikt im Fall des 18-jährigen Todesschützen Kyle Rittenhouse spaltet Amerika so sehr wie einst der Freispruch von O.J. Simpson. Ob Rittenhouse sein eigentliches Ziel erreicht, steht weiter in den Sternen.
Wahrscheinlich hat es Kyle Rittenhouse nur gut gemeint, als er sich am 25. August 2020 mit einer AR-15 – einem Sturmgewehr, das die Amerikaner schon im Vietnamkrieg eingesetzt hatten – an den Strassenrand in Kenosha stellte, um lokale Geschäfte vor den randalierenden «Black Lives Matter»-Demonstranten zu schützen.
Doch dann eskalierte die Situation. Ein Demonstrant versuchte, ihm seine Kriegswaffe zu entreissen. Rittenhouse drückte ab und tötete ihn. Ein zweiter Demonstrant ging mit einem Skateboard auf den damals 17-Jährigen los. Rittenhouse tötete auch ihn. Er stellte sich der Polizei und wurde wegen Mordes vor Gericht gestellt. Vergangene Woche sprach ihn eine Jury von allen Vorwürfen frei. Der schwerbewaffnete Teenager habe sich nur selbst verteidigt, so das Verdikt.
Kein Gerichtsentscheid seit dem Freispruch im Mordprozess gegen den Ex-Football-Star O.J. Simpson 1995 hat das Land so tief gespalten. Das linke Amerika sieht darin ein Versagen des Systems, das den Einsatz von tödlichen Schusswaffen zum diffusen Zweck der Selbstverteidigung befördert. Das rechte Amerika sieht im 18-Jährigen einen Helden, der angesichts des drohenden Chaos mutige Selbstinitiative zeigte, statt einfach wegzuschauen.
Rittenhouse selbst sagte in einem Gespräch mit dem «Fox News»-Moderator Tucker Carlson, er sei kein politischer Mensch. Einst hatte er eine Wahlkampfveranstaltung von Donald Trump besucht. Eigentlich aber sympathisiere er mit der «Black Lives Matter»-Bewegung. Sein Fall habe trotzdem nichts mit Politik zu tun. Er habe sich schlicht selbst verteidigt.
Gerade der Akt der Selbstverteidigung aber ist in den USA zu einem brandheissen Politikum herangewachsen. Im Wilden Westen noch galt das Duell unter Streithähnen als ehrenvolle Form der Konfliktbewältigung. In touristisch aufgemotzten Geisterstädten wie Tombstone – unweit der Arizona State University, an der Rittenhouse sich zum Krankenpfleger ausbilden lassen möchte – wird das Duell in theatralischen Aufführungen bis heute zelebriert.
Nur hat das alte Tombstone wenig gemein mit dem modernen Amerika, in dem mehr als 393 Millionen Schusswaffen registriert sind (bei 330 Millionen Einwohnern). Schiessen darf, wer sich bedroht fühlt – egal, ob er zuhause von einer Einbrecherbande überrascht wird oder auf offener Strasse in einen Streit gerät.
Wenn nun aber statistisch gesehen jeder Amerikaner mindestens eine Schusswaffe besitzt und diese überallhin mitnehmen darf, ist es schnell geschehen, dass sich ein anderer Amerikaner bedroht fühlt und von seinem Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch macht. Wenig verwunderlich auch, dass ein gutgläubiger Teenager in diesem waffengefluteten Land glaubt, er müsse sich selbst und seine Gemeinde vor all diesen Waffennarren schützen – natürlich mit einer möglichst potenten Waffe.
Amerika muss dringend über die Gesetzbücher. Wenn der kuriose Fall von Kyle Rittenhouse dazu führt, dass das Land darüber nachdenkt, wo die wirkliche Gefahr für seine Bürgerinnen und Bürger liegt, dann hat der junge Mann bestenfalls tatsächlich erreicht, was er eigentlich erreichen wollte: dass seine Heimat eine sicherere wird.