Flüchtlinge
Und, Deutschland, hast du’s geschafft? Zwischenbilanz fünf Jahre nach Merkels «Wir schaffen das»-Versprechen

Die deutsche Bundeskanzlerin ist sich selber nicht ganz sicher, ob sie den Satz so nochmal sagen würde. Derweil sind 460'000 Flüchtlinge im Land auf Jobsuche.

Christoph Reichmuth, Berlin
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Angela Merkel wurde von den ankommenden Flüchtlingen (hier in München) 2015 als Retterin gefeiert.

Angela Merkel wurde von den ankommenden Flüchtlingen (hier in München) 2015 als Retterin gefeiert.

Keystone

Vermutlich wollte Angela Merkel der Bevölkerung an jenem 31. August 2015 einfach nur Mut zusprechen.

Deutschland ist ein starkes Land. Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das!

Die Kanzlerin dürfte die ikonische Bedeutung des Satzes damals nicht erahnt haben. Doch die Aussage prägte ihre Kanzlerschaft wie keine andere.

Ob sie ihren berühmten Satz von 2015 heute nochmal sagen würde? Bundeskanzlerin Angela Merkel 2015.

Ob sie ihren berühmten Satz von 2015 heute nochmal sagen würde? Bundeskanzlerin Angela Merkel 2015.

Keystone

Die Ereignisse überschlugen sich in diesem Spätsommer 2015. Auf einer österreichischen Autobahn erstickten 71 Flüchtlinge erbärmlich in einem Kühllaster. Das Bild des ertrunkenen Flüchtlingsjungen Alan Kurdi ging um die Welt. In Budapest sassen Zehntausende Menschen am Bahnhof fest. Ihnen bot Merkel wenige Tage nach ihrem «Wir schaffen das»-Satz an, dass sie vorläufig nach Deutschland kommen dürfen.

Die Flüchtlingswelle erfasste das Land mit voller Wucht. Täglich überquerten Tausende die Grenzen. Am Münchner Bahnhof wurden sie mit Beifall empfangen, zeitgleich brannten in vielen Gemeinden Flüchtlingsheime nieder. Die Proteste gegen die Neuankömmlinge nahmen zu.

460'000 Flüchtlinge sind auf Jobsuche

Die AfD wandelte sich von der Anti-Euro-Partei zur Anti-Migrations-Partei – mit Erfolg. Sie sitzt inzwischen in allen 16 Bundesländern im Parlament, im Osten kommt sie auf Werte von weit über 20 Prozent. Die EU fiel beinahe auseinander. Symbolhaft standen sich die «Flüchtlingskanzlerin» Angela Merkel und der ungarische Präsident Viktor Orban gegenüber. Die eine liess Zehntausende ins Land. Der andere errichtete Stacheldraht-Zäune, um die Flüchtlinge aufzuhalten.

Und, hat Deutschland «das» geschafft? Was die Arbeitsintegration der Flüchtlinge angeht: ja. Das zumindest sagt Herbert Brücker, der am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zum Thema forscht, im «Handelsblatt»: «Zum Jahresende werden etwas weniger als die Hälfte der 2015 Zugezogenen in Arbeit sein, ohne Corona hätten wir die 50-Prozent-Marke erreicht.» Bei genauerem Hinschauen sieht die Sache nicht ganz so rosig aus: Von jenen, die in Deutschland Arbeit gefunden haben, üben 44 Prozent lediglich Hilfstätigkeiten aus. Im Juli 2020 suchten laut der Bundesagentur für Arbeit 460'000 Flüchtlinge einen Job.

Merkel würde das heute wohl nicht mehr so sagen

Die Nachwirkungen von 2015 sind für Deutschland auch eine finanzielle Belastung: Laut Schätzungen des Bundes summieren sich die Ausgaben für die Flüchtlingskrise seit 2016 auf 87,3 Milliarden Euro. Hinzu kommen weitere 50,7 Milliarden, welche die Bundesländer zur Versorgung der Flüchtlinge aufwenden mussten.

Und die Gesellschaft? Durch sie geht auch fünf Jahre nach «Wir schaffen das» noch immer ein Riss. Kriminelle Zugewanderte und Terroranschläge wie jenen auf den Berliner Weihnachtsmarkt am 19. Dezember 2016 haben dafür gesorgt, dass viele Menschen den Flüchtlingen gegenüber misstrauisch sind und das Vertrauen in die Regierung verloren haben. «Was fortbesteht, ist eine Teilung der Gesellschaft in jene, die den Weg von 2015 für grundsätzlich falsch halten, und jene, die ihn bei aller Kritik verteidigen», sagte der Ex-Innenminister Thomas de Maizière kürzlich in einem Interview.

Doch die Flüchtlingskrise ist längst nicht mehr das dominierende Thema in Deutschland. Der Druck hat spürbar nachgelassen, auch durch Schliessung der sogenannten Balkan-Route und dank des EU-Türkei-Flüchtlingsabkommens. Im letzten Jahr suchten noch 600'000 Menschen Asyl in den 27 EU-Staaten, davon 142500 in Deutschland. Die Zahlen dürften in diesem Jahr noch weiter sinken. Und Merkel? Die ist sich nicht mehr so sicher, was den Satz angeht, wie sie schon 2016 sagte. «Manchmal denke ich aber auch, dass dieser Satz etwas überhöht wird. So sehr, dass ich ihn am liebsten kaum noch wiederholen mag.»

«Ich verstehe die Befürchtungen»
Adnan, 29, Flüchtling aus Damaskus in Berlin

Seine Eltern kratzten alles Geld zusammen, das sie hatten, damit er nicht dasselbe Schicksal erleidet wie sein Bruder: Adnan, syrischer Flüchtling in Berlin.

Seine Eltern kratzten alles Geld zusammen, das sie hatten, damit er nicht dasselbe Schicksal erleidet wie sein Bruder: Adnan, syrischer Flüchtling in Berlin.

Christoph Reichmuth

«Am 15. Oktober 2015 bin ich in Berlin angekommen. Eine Rückkehr nach Syrien war unmöglich. Ich wäre in die Armee eingezogen worden, wie mein Bruder. 2012 ist mein Bruder aus Damaskus geflüchtet, weil er nicht in die Armee eingezogen werden wollte. Er wird seit 2013 vermisst. Meine Eltern haben ihr gesamtes Geld zusammengekratzt, um mir zu ermöglichen, nach Europa zu gehen - damit sie mich nicht auch noch verlieren in diesem Krieg. Es war sehr schwierig zu Beginn in Berlin. Ich jobbte für vier Euro pro Stunde schwarz in einem Restaurant. 2016 stellte ich einen Asylantrag, der wurde positiv beurteilt. Danach konnte ich mich 2018 an der Uni in Psychologie einschreiben und erhielt von einer Stiftung ein Stipendium. Ich bin Deutschland wahnsinnig dankbar für die Chance, die ich bekommen habe. Auch ich musste Erfahrungen machen mit Diskriminierung. Meine Strategie ist es, diesen Menschen keinen Platz in meinem Leben zu geben. Ich kann die Befürchtungen jener Menschen in Deutschland aber verstehen, die Angst davor haben, dass sich ihre Kultur verändert durch die vielen Flüchtlinge. Was Frau Merkel getan hat für die Flüchtlinge, ist einzigartig. Sie hat uns die Chance gegeben, ein neues Leben zu beginnen.» (crb)

«Ist Merkel wahnsinnig geworden?»
Anja Tobias, 48, Pflegefachfrau aus Leipzig

Fürchtet sich vor der Islamisierung Deutschlands und hat mehrfach an Pegida-Demos teilgenommen: Anja Tobias aus Leipzig.

Fürchtet sich vor der Islamisierung Deutschlands und hat mehrfach an Pegida-Demos teilgenommen: Anja Tobias aus Leipzig.

zVg

«Nach Merkels Worten habe ich gedacht: Klar, die paar Leute, die da kommen, denen müssen wir helfen. Aber dann sind Hunderttausende gekommen. Die Gewalttaten haben mir die Augen geöffnet. Ich dachte: Um Gottes Willen, ist Merkel wahnsinnig geworden? Das war ein krasser Fehler von ihr. Ich bin zweimal zu einer Demonstration von Pegida gegangen. Es hiess immer, dort seien Nazis und Rechtsextremisten. Aber da waren überwiegend ältere Menschen, die sich Sorgen machten um ihre Zukunft. Die Islamisierung in Deutschland findet schon längst statt. Die Bundesregierung gratuliert zum Ramadan, aber fürs eigene Volk hat sie keine Worte übrig. Natürlich gibt es unter den Flüchtlingen auch welche, die sich integrieren wollen und einen Job ausüben. Aber der Grossteil hängt doch in der sozialen Hängematte. Die wirklichen Flüchtlinge dürfen hier sein. Aber sie sollen die Sprache lernen und eine Arbeit suchen, damit sie später, wenn sie zurückkehren, beim Aufbau ihres Landes helfen können. Schauen Sie doch unser Land an, das ist total gespalten seit diesem Herbst 2015.» (crb)