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Der IS-Chef und selbsternannte Kalif Abu Bakr al-Baghdadi zeigte sich bisher nur ein einziges Mal in der Öffentlichkeit.
Lange Jahre war er ein Phantom. Seine Anhänger nannten ihn den «unsichtbaren Scheich», bis Abu Bakr al-Baghdadi im Sommer letzten Jahres nach der Eroberung von Mossul plötzlich in der prächtigen Al-Nuri-Moschee auftauchte, um per Freitagspredigt das «Islamische Kalifat» auszurufen.
Für das Unrecht an den Muslimen schwor er Vergeltung. «Bei Allah, wir werden uns rächen, selbst wenn das eine Weile braucht.» Paris, Beirut, Sharm el-Sheikh, Ankara – der gelernte Koranwissenschaftler hat seine Drohungen wahr gemacht.
Geboren wurde Baghdadi, der mit bürgerlichem Namen Ibrahim al-Badri heisst, am 1. Juli 1971 in Samarra. Schon als Jugendlicher verbrachte er jede freie Minute in der Moschee. Der Vater gab Religionsunterricht an der lokalen Moschee. Sohn Ibrahim war schüchtern und introvertiert. Wenn er redete, dann so leise, dass er kaum zu verstehen war. Nur wenn er koranische Suren rezitierte, wurde seine Stimme voll und kräftig.
Schon damals tadelte er alle, die in seinen Augen gegen die frommen Regeln verstiessen. Einer der Nachbarn erinnerte sich, wie Baghdadi einmal völlig aus dem Häuschen geriert, als er auf einer Hochzeit Frauen und Männer zusammen tanzen sah.
Wegen seiner mittelmässigen Maturnoten bekam der stramme Salafist an der Universität Bagdad keinen Studienplatz in Jura und schrieb sich im Fach Koranstudien ein, was er mit einem Magister abschloss. Die Nachrichten über sein Privatleben sind spärlich. Baghdadi soll zwei Frauen und sechs Kinder haben. Seine erste Frau Asma ist eine Cousine, die Tochter eines Onkels. Isra, die zweite Frau, heiratete er später, nach der US-Invasion 2003.
Heute ist der 44-Jährige eine mächtige Erscheinung mit grimmigem Blick und kräftigen Augenbrauen. Sein schwarzer Turban weist ihn aus als direkten Nachfahren des Propheten Mohammed.
Als Führer der mächtigsten Terrororganisation auf dem Globus hat er die Macht, jeden in seinem Herrschaftsgebiet köpfen, kreuzigen oder steinigen zu lassen, der die Vorschriften des Islam nicht hundertprozentig befolgt. Seine Anhänger nennen ihn ehrfürchtig «Befehlshaber der Gläubigen», im Mittelalter und in der Neuzeit der Ehrentitel des islamischen Kalifen, der bis zum Ende des Osmanischen Reiches das geistliche und weltliche Oberhaupt aller Muslime auf Erden war.
Radikalisiert wurde Abu Bakr al-Baghdadi durch die amerikanische Invasion des Irak. 2004 nahmen ihn US-Soldaten in Fallujah fest, als er einen Freund besuchte, der auf der Fahndungsliste stand. Zehn Monate lang blieb er im Lager Bucca in Südirak. 24 000 Iraker waren hier eingesperrt. Zelle an Zelle lebten radikale Prediger, entlassene Soldaten und Geheimdienstler. Viele aus der heutigen Führung des «Islamischen Staates» lernten sich hier kennen. «Bucca war wie eine Fabrik. Hier wurden wir geformt, hier entstand unsere Ideologie», sagte später einer aus dem Kreis.
Als Baghdadi am 8. Dezember 2004 wieder frei kam, nahm er Kontakt zu al-Kaida auf, die ihn nach Damaskus schickte. Von dort aus schleuste er Dschihadisten über die Grenze in den Irak, die gegen die US-Besatzer kämpften.
Zurück in seiner Heimat wurde er Chef der Al-Kaida-Religionswächter, liess Alkoholtrinker auspeitschen, Dieben die Hand abhacken und Gotteslästerer exekutieren. 2007 nahm er eine Auszeit vom blutigen Scharia-Job und promovierte in Bagdad in Koranrezitation.
Nach dem Tod des irakischen al-Kaida-Chefs Abu Ayyub al-Masri wurde Baghdadi 2010 zu seinem Nachfolger bestimmt. Bereits ein Jahr später schickte er erste Kommandos ins benachbarte Syrien, wo im März 2011 die Massenproteste gegen das Regime von Bashar al-Assad begonnen hatten.
Rasch überwarfen sich die radikalen Iraker mit ihren ideologischen Konkurrenten von der syrischen Al-Nusra-Front. Alle Versuche, den immer blutigeren Streit zu schlichten, scheiterten. Im Februar 2014 erklärte die Al-Kaida-Spitze in Afghanistan schliesslich den Bruch mit Baghdadi und seinen Kämpfern – und der Aufstieg des «Islamischen Staates» begann.