Streit über Wiedereröffnung in Amerika: Wenn ein Verbündeter des Präsidenten von Donald Trump höchstpersönlich zurückgepfiffen wird

Amerikanische Gouverneure suchen nach einem Ausweg aus dem Lockdown. Auch deshalb hat sich Brian Kemp, der Regierungschef des Bundesstaates Georgia, dazu entschieden, Coiffeuren oder Fitnessclubs grünes Licht zu geben, ihre Lokale wieder zu öffnen. Diese Entscheidung stösst selbst im Weissen Haus auf Skepsis.

Renzo Ruf aus Washington
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Brian Kemp ist der Regierungschef des Bundesstaates Georgia.

Brian Kemp ist der Regierungschef des Bundesstaates Georgia.

Bild: Brynn Anderson/AP

Der Gouverneur hat sich nicht umstimmen lassen – obwohl selbst sein Parteikollege im Weissen Haus der Meinung ist, er mache einen grossen Fehler. Also gab Brian Kemp, ein 2018 gewählter Republikaner, am Freitag grünes Licht, und erlaubte im Bundesstaat Georgia die Wiedereröffnung einer Reihe von Kleinunternehmen. Coiffeursalons, Massage- und Tattoostudios oder Fitnessclubs dürfen damit wieder Kundinnen und Kunden empfangen, so lange sämtliche Regeln eingehalten werden. Die entsprechende Liste umfasst 20 Punkte, und verbietet zum Beispiel das Händeschütteln.

Am Montag sollen dann Restaurants und Kinos folgen. «Die Menschen sind müde», begründete Kemp seine Entscheidung, die er ohne Rücksprache mit lokalen Ärzten oder Politikern getroffen hatte, und sie sehnten sich nach Normalität. Ähnliche Entscheidungen haben in den vergangenen Tagen die Gouverneure von Texas oder Tennessee getroffen.

Gouverneur Kemp hat sicherlich recht: Amerika ist nach Wochen des Lockdowns müde. Und tatsächlich bildeten sich in Atlanta, der grössten Stadt in Georgia, am Freitag bereits in den frühen Morgenstunden Schlangen vor beliebten Coiffeursalons, wie ein lokaler Fernsehjournalist berichtete.

Andere Geschäftsbesitzer allerdings zogen es vor, die Tür geschlossen zu halten. So sagte Mike Tinney, der Besitzer des historischen Kinos «West Cinema» im Provinzstädtchen Cedartown, im Gespräch: «Ich habe es nicht eilig.» Er finde es zwar gut, dass Gouverneur Kemp aufs Tempo drücke; auch ist Tinney der Meinung, dass die Medienberichterstattung über das Coronavirus zu alarmistisch sei. Er wolle aber zuerst sehen, wann andere Geschäfte in Cedartown wieder öffneten, bevor er wieder Filme zeige. Auch sei derzeit das Risiko schlicht zu gross, sagt Tinney. «Stellen Sie sich vor, jemand steckt sich im Kino mit dem Coronavirus an...»

Ähnlich äussert sich Marla Adams, die in Atlanta «Babette's Cafe» betreibt. Das renommierte Restaurant bleibt vorerst geschlossen. Sie wolle zuerst sehen, wie sich die Lage in den nächsten Wochen entwickle, sagt Adams.

Scharfe Kritik von Trump an Gouverneur Kemp

Und trotz dieser Skepsis wird das Experiment in Georgia im Rest des Landes mit Spannung beobachtet – auch weil Politbeobachter eigentlich der Meinung waren, dass Kemp die Rückendeckung des Präsidenten besitze. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Donald Trump angesichts einer einbrechenden Konjunktur und mehr als 26 Millionen Arbeitslosen ein schnelles Ende des Lockdowns anstrebt, und dabei auch gewillt ist, warnende Zwischenrufe seiner medizinischen Berater zu ignorieren.

Umso erstaunlicher deshalb die ätzenden Stellungnahmen aus dem Weissen Hauses. Sowohl am Mittwoch als auch am Donnerstag deckte Donald Trump den Gouverneur mit harscher Kritik ein. Während seiner täglichen Pressekonferenz sagte Trump, er sei überhaupt «nicht glücklich» darüber, dass Kemp derart aufs Tempo drücke. Letztlich müsse der Gouverneur aber selbst wissen, was richtig sei. Am Freitag dementierte Trump dann auf dem Kurznachrichtendienst Twitter, dass er dem Gouverneur jemals signalisiert habe, er sei mit seinem Vorgehen einverstanden. Amerikanische Medien hatten zuvor das Gegenteil behauptet.

Welches Ziel der Präsident mit dieser Strategie verfolgt, ist unklar. Beobachter sagen, Trump wolle verhindern, dass er für steigende Corona-Fallzahlen verantwortlich gemacht werde, falls das Experiment in Georgia schiefgehe. Vielleicht trifft dies zu. In erster Linie sorgt er aber für Verwirrung, gerade auch bei verbündeten republikanischen Gouverneuren.

Coronavirus

Mehr als 51'000 Tote in Amerika

Die Zahl der offiziellen Todesopfer in Amerika hat am Samstag die Marke von 52'000 überstiegen. Gegen 907'000 Amerikanerinnen und Amerikaner haben sich mit dem Virus infiziert – deutlich mehr als in jedem anderen Land der Welt, wenigstens gemäss den Zahlen der Johns Hopkins University in Baltimore (Maryland).  Umgerechnet auf die Bevölkerungszahl, in Amerika wohnen gegen 330 Millionen Menschen, sind in den USA etwa gleich viele Menschen wie in der Schweiz an Covid-19 gestorben. In Frankreich, Italien, Spanien und Belgien liegt die Sterberate höher als in Amerika. (rr)